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Seit einigen Jahren eskaliert in Schweden die Bandengewalt. Jugendliche, die daran beteiligt sind, kommen statt ins Gefängnis in ein Heim, zur Resozialisation. Warum die nicht klappt, wie erhofft – und wie es besser gehen könnte

Rinkeby

Khaled wippt nervös mit dem Fuß. Draußen scheint die Sonne auf schwedische Wiesen und Wälder. Vom Fenster aus kann man das Idyll hinter dem hohen Zaun nur erahnen.

Seit einem halben Jahr ist Khaled im im Jugendheim Klarälvsgården. Frei bewegen darf er sich nicht. Mit ihm sitzen zwei Aufseher im abgesicherten Raum. „Als es angefangen hat, war ich 14 oder 15“, erzählt Khaled leise. Heute ist er 17. Grauer Hoodie, schlaksige Figur und kurze Haare. Was damals genau angefangen hat, will er nicht sagen: „Ein paar kriminelle Sachen.“ Eigentlich heißt Khaled anders. Weil sich Drogengangs an ihm rächen könnten, darf sein Name nicht an die Öffentlichkeit geraten.

330 Kilometer westlich von Stockholm beherbergt das staatliche Heim einige der schwersten jungen Bandenkriminellen – verwickelt in Raub, schwere Körperverletzung oder Mord. Abgeschieden stehen vier Gebäude um einen kargen Platz. 22 junge Männer wohnen in den Häusern – aufgeteilt in Gruppen, die sich unter keinen Umständen begegnen dürfen. Um Gewaltausbrüche zu verhindern, sollen Mitglieder rivalisierender Drogengangs eigentlich nicht im selben Heim unterkommen. Kameras überwachen jeden Quadratzentimeter. Vor den Fenstern: Stacheldrahtrollen. Die nächste Bushaltestelle ist eine halbe Stunde zu Fuß entfernt.

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Jugendheim Klarälvsgården in Schweden (Foto: Manuel Rauch)
Stacheldraht vorm Fenster: das Jugendheim Klarälvsgården (Foto: Manuel Rauch)

Seit einigen Jahren eskaliert in Schweden die Bandengewalt. Vor allem zwei verfeindete Gangs, Foxtrot und Dalen, bekämpfen sich bis auf den Tod, besonders in den Vororten der Städte. Vor rund zwei Jahren begannen die Banden, um die Vorherrschaft im Drogenmarkt in der Stadt Sundsvall zu kämpfen. Nach mehreren Mordversuchen entstand eine Rachespirale. Sprengstoffanschläge und Schusswaffenvorfälle kommen nun fast täglich in Schweden vor. Allein im Jahr 2023 wurden 53 Menschen erschossen – im Schnitt jede Woche einer. 2022 war mit 62 Todesopfern ein neuer Höhepunkt erreicht. 

Die Gangs rekrutieren immer mehr Minderjährige. Als Strafe drohen ihnen höchstens vier Jahre im geschlossenen Jugendheim. Die ersten Aufträge sind oft Botengänge – bis es dann bald um mehr geht. Khaled haben sie mit Geld geködert. Vor zehn Jahren ist er mit seiner Familie von Libyen nach Schweden geflüchtet. Dort ging er in einer mittelgroßen Stadt zur Schule. „Man kann so viel verdienen, wie man will“, sagt Khaled. Er stockt, Augenkontakt fällt ihm schwer. Gut habe er sich dabei nicht gefühlt. „Man weiß nie, wem man vertrauen kann.“

„Junge Menschen wollen eine Identität haben“, erklärt Mats Lindström. „Wenn du jemanden für dein Netzwerk erschießt, verschaffst du dir Respekt.“ „Kindersoldaten“ nennt er sie. Lindström arbeitet als Fahndungsleiter bei der Polizei in Rinkeby, einem Vorort im Nordwesten von Stockholm.

Bilder von beschlagnahmten Waffen in einer Polizeistation in Rinkeby (Foto: Ilvy Njiokiktjien/NYT/Redux/laif)

Bilder von beschlagnahmten Waffen in einer Polizeistation im Stockholmer Stadtteil Rinkeby

(Foto: Ilvy Njiokiktjien/NYT/Redux/laif)

Auf der Karte der Polizei ist dieser dunkelrot umrahmt – ein „besonders gefährdetes Gebiet“. So bezeichnen die Behörden Stadtviertel, die unter hoher Kriminalität und sozialer Ausgrenzung leiden. Das Straßenbild dominieren Wohnblocks aus den 60er- und 70er-Jahren. Der Migrantenanteil liegt in Rinkeby bei 92 Prozent. Die meisten Einwohner:innen verdienen wenig Geld, fühlen sich abgehängt. Banken und die Post sind schon vor Jahren weggezogen. Sprachliche Integration sei in diesem Umfeld oft schwierig, vielen Jugendlichen fehlt eine positive Lebensperspektive – sie sind eine leichte Beute für die Drogengangs. Vor einigen Jahren eskalierte hier der Streit zwischen zwei anderen Drogennetzwerken: Shottaz und Dödspatrullen – sozusagen der Vorgänger des aktuellen Konflikts.

Im Jugendheim Klarälvsgården, weit weg von großen Städten, sollen junge Männer wie Khaled auf einen Weg fernab von Kriminalität kommen und sich selber finden. Ihr Tag folgt deshalb einem Stundenplan: Schule, Essen, Therapie. Der Heimleiter Jonathan Eliasson tritt ihnen gegenüber autoritär auf, schaut streng. Hier gebe es Regeln. Trotzdem solle im Heim aber vor allem eine Beziehung zu ihnen aufgebaut werden. So sei es auch leichter, an sie ranzukommen und Einfluss auf sie zu nehmen. „Wir fragen: ‚Hast du mit deiner Mutter darüber gesprochen, welches Lied sie auf deiner Beerdigung spielen soll? Und welches Kleid deine Schwester anzieht, wenn sie um dich weint?‘“ Oft kämen dann Gefühle wie Scham und Wut zum Vorschein. 

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Jonathan Eliasson (Foto: Manuel Rauch)
Heimleiter Jonathan Eliasson (Foto: Manuel Rauch)

Seit 1999 werden in Schweden junge Täter:innen ins Jugendheim geschickt statt ins Gefängnis. Die Recherchegruppe Acta Publica hat Gerichtsurteile gegen mehr als 400 junge Menschen dokumentiert. Von den Jugendlichen, die zwischen 2015 und 2018 zu geschlossenem Heim verurteilt wurden, sind danach sieben von zehn erneut straffällig geworden – bei Bandenkriminellen sogar neun von zehn. Aufsichtsbehörden schieben das auf Mängel in den Jugendheimen: Die Sicherheitsvorkehrungen reichen nicht, das Personal sei schlecht ausgebildet.

In Teilen stimme er der Kritik zu, sagt Jonathan Eliasson. An einigen Standorten sei es schwer, gutes Personal zu finden, weil es generell an Sozialarbeiter:innen mangele und die Heime so weit weg von Städten sind, dass sie kein attraktiver Arbeitsplatz seien. Sein Heim betreffe das aber nicht. Trotzdem fordert Eliasson von der Politik neue Räume, mehr Betreuungsplätze und eine stärkere Zusammenarbeit mit Psychiater:innen.

Die Minderheitsregierung aus drei konservativ-liberalen Parteien ist auf die Unterstützung der rechtspopulistischen Schwedendemokraten angewiesen und plant nun, das System umzukrempeln: Sie will das Bandenproblem mithilfe des Militärs lösen und härtere Strafen verhängen. Auch strengere Migrationsregeln wurden bereits verabschiedet. Die für die Jugendheime zuständige Behörde soll aufgelöst und neu organisiert werden.

Rinkeby (Foto: Narciso Contreras/Polaris/laif)
Vielen Jugendlichen in Rinkeby fehlt eine positive Lebensperspektive – das macht es den Banden besonders leicht (Foto: Narciso Contreras/Polaris/laif)

Von alldem hält Mesir Taki vom schwedischen Rat für Kriminalprävention wenig. „Härtere Strafen werden das Problem nicht lösen“, ist er überzeugt. Über die Rückfallquote wundert er sich nicht. Die Jugendlichen seien auf sich allein gestellt, wenn sie aus dem Jugendheim kommen. „Wir müssen ihnen Alternativen zur Kriminalität bieten“, meint Taki. Die Stadt Malmö etwa verfolgt seit einigen Jahren ein neuartiges Konzept: Polizei, Sozialdienste und Menschen aus der Zivilgesellschaft arbeiten koordiniert zusammen, suchen das Gespräch mit kriminellen Gruppen, zeigen Verständnis für die Situation der Betroffenen und erklären, dass es Hilfe für sie gibt. Studien zeigen, dass die Strategie wirkt. Mehrere Kommunen haben das Konzept übernommen. 

Auch in Stockholm-Rinkeby haben sich die Bewohner:innen gegen die Bandengewalt gewehrt, als ihr Stadtteil vor ein paar Jahren stark betroffen war. „Die Menschen wollten etwas verändern“, erklärt Mesir Taki. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre gründeten sie Einrichtungen für Teenager, in denen sie nach der Schule Sport oder Musik machen können, Hilfe bei den Hausaufgaben oder bei Bewerbungen für Jobs bekommen. Mütter und Väter aus anderen Vierteln ziehen abends mit Warnwesten durch die Straßen und sprechen mit Jugendlichen, hören ihnen zu. Ida Kriisa ist eine von ihnen. „Ich mache das aus Liebe – auch für meine Kinder“, sagt sie, die Lehrerin aus dem wohlhabenden Stadtteil Södermalm. Die Waffengewalt in Rinkeby ist seither zurückgegangen.

Präsenz zeigen, einfach da sein – damit nicht noch mehr junge Menschen dort landen, wo Khaled jetzt sitzt. In einem streng bewachten Raum hinter Fenstern aus Sicherheitsglas. „Das ist kein Platz, an dem man sein möchte“, sagt er. Was er getan hat, bereue er. In einer Woche kommt Khaled aus dem Heim, dann darf er in einer eigenen Wohnung leben, zunächst betreut vom Sozialdienst. Eine Arbeit will er finden und Geld verdienen. „Ich habe keine Träume. Ich will nur, dass meine Familie stolz auf mich sein kann.“ Draußen scheint weiter die Sonne.

Titelbild: Ilvy Njiokiktjien/NYT/Redux/laif

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