In den frühen Morgenstunden des 8. Dezember 2024 brachten syrische Kämpfer unter Führung der islamistischen Gruppe Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) die syrische Hauptstadt Damaskus unter ihre Kontrolle und vertrieben den langjährigen Präsidenten Baschar al-Assad. Damit endeten mehr als 50 Jahre Assad-Diktatur, die geprägt waren von Angst und Schweigen. Willkürliche Festnahmen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen drohten allen, die im Verdacht standen, das Regime zu kritisieren.
Schätzungen zufolge verschwanden seit der gescheiterten Revolution 2011 etwa 130.000 Menschen in syrischen Gefängnissen oder auf der Flucht vor dem Regime. Der Sturz Assads bedeutet für viele Syrer*innen daher vor allem einen Sturz des Gefängnisregimes: eine Chance, all jene zu befreien, die noch leben, und das Schicksal derer aufzuklären, die in Haft gestorben sind.
Yasmin al-Mashaan (44, auf dem Titelbild rechts) hat fünf ihrer sechs Brüder in Syrien verloren. Vier tötete das Assad-Regime, einen der IS. In Deutschland hat al-Mashaan die Caesar Families Association mitbegründet: einen Zusammenschluss von Menschen, die ihre verschwundenen Angehörigen auf den sogenannten Caesar-Fotos wiederfanden. 2013 hat ein syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar Zehntausende Fotos aus dem Land geschmuggelt und veröffentlicht. Darauf zu sehen waren die Leichen von mindestens 6.700 Syrern, die in den Gefängnissen der Geheimdienste getötet worden waren oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus gestorben sind – auch al-Mashaans Bruder Oqba war darunter.
Seit Jahren fordert al-Mashaan, wie viele andere Hinterbliebene, die Aufklärung des Schicksals aller Verschwundenen und Gerechtigkeit für die Opfer. Nach dem Sturz des Assad-Regimes scheinen diese Ziele nun greifbarer denn je.
fluter.de: Wie haben Sie den Sturz des Assad-Regimes in der Nacht auf den 8. Dezember erlebt?
Yasmin al-Mashaan: Meine Kinder und ich verfolgten die Nachrichten auf allen Kanälen, gleichzeitig war ich in Kontakt mit meinen Verwandten vor Ort. Alles ging so schnell. Als um circa drei Uhr nachts das Foltergefängnis Sednaya befreit wurde, konnten wir unsere Gefühle nicht mehr kontrollieren, wir jubelten vor Freude. Wir erwarteten ja, dass die Gefangenen jetzt alle rauskommen, überlegten, wie wir Betreuung für sie organisieren.
Doch es waren weniger als gedacht.
Es waren nur ein paar Tausend, und das bei geschätzt 130.000 Verschwundenen. Es zeichnete sich ab, dass alle, die nicht rausgekommen sind, tot sind. Der Tag danach war sehr bedrückend.
Wie gehen die Familien, die nach Angehörigen suchen, mit der Situation um?
Ich bekomme im Minutentakt Nachrichten von Menschen, die noch nach jemandem suchen und Unterstützung brauchen. Manche haben es bisher nicht gewagt, auf den Caesar-Fotos nach ihren Angehörigen zu suchen, und wollen das jetzt nachholen. Wer dort nicht fündig wird, den können wir an andere Opferorganisationen vermitteln, die sich zum Beispiel mit im Sednaya-Gefängnis verschwundenen Personen beschäftigen. Oder wir helfen ihnen, ihre Angehörigen bei den speziellen UN-Organisationen für die Verschwundenen zu registrieren. Ich kenne auch einige, die jetzt aus Europa und der Türkei nach Syrien gereist sind, um vor Ort nach ihren Kindern zu suchen, obwohl sie wissen, dass sie danach nicht zurückkönnen. Mittlerweile fragen viele: Wenn sie tot sind, wo sind dann ihre sterblichen Überreste?
„Wir rufen die Menschen dazu auf, nicht eigenständig in den Massengräbern nach ihren Angehörigen zu suchen. Das müssen Expert*innen machen“
-Können Sie helfen?
Das Wichtigste ist jetzt, die Familien zu beruhigen, denn sonst entstehen leicht Wünsche nach Rache. Wir haben Psycholog*innen engagiert, die unsere Mitglieder online betreuen. Seit Jahren beschäftigen wir uns mit dem systematischen Verschwindenlassen durch den Staat, dokumentieren und sammeln Beweise. Und doch ist die Realität noch grausamer als erwartet.
Rund um und in Damaskus wurden bereits Massengräber gefunden.
Wir rufen die Menschen dazu auf, nicht eigenständig in den Massengräbern nach ihren Angehörigen zu suchen. Das müssen Expert*innen machen. Die neue Führung muss die Massengräber schützen. Leider haben manche Menschen auch Dokumente aus den Gefängnissen mitgenommen, weil sie nach ihren Kindern suchen. Wir bitten sie, diese ordnungsgemäß aufzubewahren, bis es eine Regierung oder eine andere verantwortliche Organisation gibt, der man sie übergeben kann. Sie dürfen nicht verloren gehen.
Gibt es Beweise oder Spuren, die auf den Verbleib der Verschwundenen hindeuten?
Wir haben eine Dokumentationsgruppe in Syrien, die Aufzeichnungen von Computern, Datenträgern, Überwachungskameras sammelt. Außerdem Berichte von Augenzeug*innen, die wissen, wo Menschen begraben wurden. Selbst die Innenwände der Gefängnisse tragen Informationen darüber, welche Personen dort waren. All diese Beweise sind nicht nur mögliche Spuren zu den Verschwundenen, sie helfen auch, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Wer Menschen verschwinden oder foltern lässt, der muss zur Rechenschaft gezogen werden. Jetzt ist die Gelegenheit für Aufarbeitung und Gerechtigkeit.
Sie haben in den letzten Jahren Aktivist*innen aus aller Welt getroffen, die sich in ihren Ländern mit Übergangsjustiz beschäftigt haben. Lässt sich davon etwas auf Syrien übertragen?
Ich war in Kenia und Kolumbien, habe Opferverbände aus Argentinien und Mexiko getroffen und habe erfahren, wie die Menschen dort mit der Suche nach den Verschwundenen umgingen. Die kolumbianische Herangehensweise war inspirierend, sie haben sich auf die Opfer fokussiert. Die nächste Regierung sollte die Rechte der Opfer in den Fokus stellen, in der neuen Verfassung müssen sie geehrt und entschädigt werden. Die UN-Sonderinstitution für Verschwundene in Syrien muss weitreichende Befugnisse bekommen, um die Gefängnisse und Massengräber in Zusammenarbeit mit den Familien zu überprüfen. Korrupte Institutionen müssen reformiert, eine neue Verfassung geschrieben werden. Es braucht Sondergerichte für die Übergangsjustiz.
Glauben Sie, dass die aktuelle Führung Ihre Forderungen umsetzen wird?
Bisher zeigt sich Ahmed al-Scharaa, der Führer der Islamistenmiliz HTS, die Diktator Baschar al-Assad gestürzt hat, in seinen Aussagen kooperativ. Die internationale Gemeinschaft hat Einfluss darauf, dass er sich daran hält. Wenn al-Scharaa eine friedliche Machtübergabe, Wahlen, eine neue Verfassung und eine Übergangsjustiz ermöglicht, dann sollten die Sanktionen gegen Syrien gelockert werden.
Überlegen Sie, selbst nach Syrien zu reisen?
Meine Kinder sind hier aufgewachsen, haben die deutsche Staatsbürgerschaft und gehen hier zur Schule. Ich kann sie nicht einfach aus ihrem Alltag herausholen. Wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind, können sie überlegen, wo sie leben möchten. Syrien besuchen wollen wir auf jeden Fall, aber erst, wenn wir wissen, dass es eine stabile Regierung gibt und das Land sicher ist. In mir gibt es auch einen Teil, der denkt: In Syrien habe ich einen Schmerz erfahren, der nicht zu beschreiben ist. Warum soll ich dorthin zurückgehen? Höchstens, um Blumen auf die Gräber meiner Brüder zu legen.
Titelbild: Lutz Jäkel/laif - Hannah El-Hitami