Wie entsteht ein Popsong, der mehr ist als nur ein Lied? Und wie kommt die Politik in die Musik? Was passiert, wenn Popmusik eine Fragestellung zuspitzt, die in der Luft liegt? Zwei Beispiele, die in ihrer lyrischen Haltung sehr wenig, ihrem Gehalt nach aber sehr viel miteinander zu tun haben, sollen das deutlich machen. Es handelt sich um Songtexte, die in ihren Genres zum Kanon gehören. Der eine ist ein Klassiker des deutschen Punks, der andere eines der wichtigsten deutschen Rapstücke.

Im Sommer 1978 fuhr der junge Gabi Delgado-Lopez mit seinen Freunden von der Düsseldorfer Punkband Mittagspause nach Berlin. Ziel war der Kreuzberger PunkclubS036. Zum so genannten "Mauerbaufestival" am 12. und 13. A ugust, also am 17. Jahrestag des Mauerbaus, waren elf Punkbands geladen, es gab Buttercremetorte.

Kebab-Träume, Militürk

Delgado-Lopez, selbst Kind eines spanischen Flüchtlings, war zum ersten Mal in Berlin-Kreuzberg, das damals, wie heute, von türkischen Migranten und Migrantinnen geprägt war. Im Norden und Osten war der Stadtteil von der Berliner Mauer begrenzt. "Das war eine einzigartige Situation, umgeben von Stacheldraht, inmitten eines kommunistischen Staates diese Türk-Kültür vorzufinden in voller Blüte", erinnert sich Delgado-Lopez.

Inspiriert davon schrieb er "Militürk". Es ist ein Lied, das satirisch mit der Angst vor "Überfremdung" spielt, einem Schlagwort, das damals die Runde machte. Das Stück wurde bald darauf auf der ersten Doppel-Single von Mittagspause veröffentlicht. Ein Millionenpublikum erreichte es allerdings erst, als es nochmals eingespielt wurde und 1980 auf dem Fehlfarben-Album "Monarchie und Alltag" erschien (als "Kebab-Träume" erschien es dann im gleichen Jahr als DAF-Single, mit Delgado-Lopez als Sänger).

Kebabträume in der Mauerstadt
Türk-Kültür hinter Stacheldraht
Neu-Izmir ist in der DDR,
Atatürk der neue Herr.
Milliyet für die Sowjetunion,
in jeder Imbissstube ein Spion.
Im ZK Agent aus Türkei,
Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei.
Wir sind die Türken von morgen.

"Militürk" braucht nur neun Zeilen, um ein komplexes Szenario zu entwerfen: Unter der Führung des laizistischen Gründers der modernen Türkei, Atatürk (1881-1938), unterwandern Türken den Ostblock. In jeder Imbissstube West-Berlins, das im Text zu "Neu-Izmir" geworden ist, findet sich ein türkischer Spion. Mithilfe der türkischen Tageszeitung Milliyet wird der Osten kolonisiert.

Tief sitzende Ängste

Delgado-Lopez verdichtete in diesen neun Zeilen, was viele Westdeutsche damals umtrieb. Die Stärke dieser Zeilen liegt in ihrer Kommentarlosigkeit und Lakonie. Ende der 1970er-Jahre gab es trotz der Politik der Annäherung an den Ostblock, die Bundeskanzler Willy Brandt 1969 eingeleitet hatte, immer noch eine große Angst vor dem militärischen Potenzial der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten. Dass es in Delgado-Lopez' Song ausgerechnet die türkischen Gastarbeiter in West-Berlin sind, die nun den Osten Deutschlands und Europas unterwandern, ist der eine Witz. Der andere Witz besteht darin, dass sich damit die Gefahr aus dem Osten auf unheimliche Weise verdoppelt zu haben scheint: "Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei."

"Militürk" war nicht nur politische Satire, die gekonnt mit bestehenden sprachlichen Stereotypen und Ängsten spielte. "Militürk" war auch einer der ersten Punksongs, in denen auf Deutsch gesungen wurde. "Damals war es eine Seltenheit, auf Deutsch zu singen", erinnert sich Gabi Delgado-Lopez. "Das haben nur Schlagersänger gemacht. Es ging um eine Rückeroberung der deutschen Sprache. Wir haben gesagt, das überlassen wir nicht den Schlagersängern oder der Werbeindustrie. Das nehmen wir uns zurück."

Es gab Ende der Siebziger zwar auch Musiker wie Udo Lindenberg und Rockbands wie Ton Stein Scherben oder Ihre Kinder, die auf Deutsch sangen, sowie einige Liedermacher. Richtig ist allerdings, dass erst mit den Punkbands, die auf Deutsch sangen, eine wahre Renaissance des Deutschen in der Popmusik einsetzte.

 Advanced Chemistry: Fremd im eigenen Land

Es hat allerdings bis nach dem Mauerfall gedauert, bis das Thema Einwanderung wieder in einem deutschen Popsong auf dringliche Weise verarbeitet wurde. Nachdem es nach der Wiedervereinigung zu zahlreichen rassistischen Überfällen und Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte gekommen war, veröffentlichte das Heidelberger Trio Advanced Chemistry 1992 seine Maxi-Single "Fremd im eigenen Land".

Die drei Rapper von Advanced Chemistry, Tony L, Linguist und Torch, haben eine ähnliche Geschichte wie Gabi Delgado-Lopez. Ihre Eltern stammen aus Italien, aus Ghana und aus Haiti. Und doch ist ihre Sprechhaltung eine völlig andere. Wo "Militürk" von einem nüchternen Nachrichtenstil geprägt ist, wird "Fremd im eigenen Land" aus der persönlichen Position des jeweiligen Sprechers vorgetragen.

Gestatten Sie, mein Name ist Frederik Hahn
Ich wurde hier geboren, doch wahrscheinlich sieht man's mir nicht an
Ich bin kein Ausländer, Aussiedler, Tourist, Immigrant,
sondern deutscher Staatsbürger und komme zufällig aus diesem Land.

Wo "Militürk" von den Ängsten der Mehrheitsgesellschaft erzählt, berichtet "Fremd im eigenen Land" davon, was es heißt, in Deutschland als Deutscher mit dunkler Hautfarbe zu leben.

Ist es so ungewöhnlich, wenn ein Afro-Deutscher seine Sprache spricht
und nicht so blass ist im Gesicht?
Das Problem sind die Ideen im System:
Ein echter Deutscher muss auch richtig deutsch aussehen.

"Militürk" zieht seine ganze satirische Kraft aus einem übertriebenen Szenario nationalen Untergangs. Dagegen richtet sich die Klage von "Fremd im eigenen Land" dagegen, als deutscher Staatsangehöriger wie ein Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden:

Ich habe einen grünen Pass mit 'nem goldenen Adler drauf
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land
Kein Ausländer und doch ein Fremder.

So unterschiedlich die Texte von "Militürk" und "Fremd im eigenen Land" sind, so erscheinen sie beinahe wie ein Dialog durch die Zeiten. Beide Songs betreffen Fragen nach der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen, die sich auf realpolitischer Ebene heute für viele Migranten nicht mehr so stellen wie damals. Beide Lieder stammen aus der Zeit vor der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000. Und doch haben sie nicht die lyrische Kraft verloren, uns anzusprechen.

Wichtiger als die Gemeinsamkeiten aber bleiben die Unterschiede. "Fremd im eigenen Land" ist ein typischer Protestsong, weil er seine Hörer/innen nicht darüber im Zweifel lässt, was sein Anliegen ist. Dieser Rap reiht sich ein in eine lange Reihe von Protestsongs, die in Deutschland von Franz Joseph Degenhardt und Hanns Dieter Hüsch über die Revolutionssongs von Ton Steine Scherben und Slime reichen. "Militürk" dagegen lässt Eindeutigkeit vermissen. Obwohl das Stück eine aufklärerische Lesart nahe legt, nimmt es doch zugleich eine Haltung seinem Gegenstand gegenüber ein, die ambivalent bleibt. Wie das Stück wirklich gemeint ist, bleibt offen. Es liegt in der Logik dieser Sprechhaltung, dass Gabi Delgado-Lopez eine eindeutige Auskunft zu seinen Texten immer verweigert hat.

Dazu hören:

 

Protestsongs.de (Lieblingslied Records 2004, Doppel-CD mit Booklet, 14.99 €)

Dazu lesen:

 

Jürgen Teipel (Hg.): Verschwende deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave (Suhrkamp 2001, 375 S., 12.50 €)

Ulrich Gutmair, 40, ist taz-Redakteur.