Ende Oktober entschloss sich Madeleine Sophie Daria Alizadeh alias „Dariadaria“ zu einem für Blogger radikalen Schritt: Sie schaltete die Kommentarfunktion aus. Sechs Jahre lang gemeine bis gehässige Kommentare, die sich unter ihren Beiträgen zu Fashion, Flucht und veganem Leben sammelten, reichten der 27-Jährigen.
Auf „Dariadaria“ ist „Hate Speech“ damit erst einmal verstummt. Verschiedene Studien zeigen jedoch, was jeder Internetnutzer auch selbst schon bemerkt haben wird: Beleidigungen und Übergriffe gegen Frauen finden sich fast überall im Netz. Besonders alarmierend ist dabei, dass frauenfeindliche Hassreden – zum Beispiel laut „Gender Equality Unit“ des Europarats – rapide zunehmen.
Geflohen, muslimisch und besonders präsent? Triple Trouble!
Hate Speech ist, wenn Menschen gezielt mit Worten oder Bildern beleidigt oder bedroht werden oder wenn zu Hass gegen sie aufgerufen wird. Besonders oft trifft Hate Speech geflüchtete, muslimische und jüdische Menschen, Menschen mit Behinderungen, Personen aus der LGBT-Community und Frauen.
„Wenn man sich anschaut, welche Frauen von Hate Speech betroffen sind, fällt auf: Neben muslimischen und geflüchteten Frauen betrifft dieses Phänomen vor allem Feministinnen und jene, die in der Öffentlichkeit stehen“, sagt Sina Laubenstein. Die 25-Jährige ist Projektmitarbeiterin der Initiative „No Hate Speech Movement“ in Deutschland. Vom Europarat gegründet, soll diese auf Hass im Netz aufmerksam machen, indem sie ihn anspricht, sich mit Betroffenen solidarisiert und erklärt, was man tun kann, wenn in der Timeline wieder mal wer „hatet“.
Eine Datenanalyse, die Laubensteins Beobachtung untermauert, lieferte im April „The Guardian“. Die britische Tageszeitung untersuchte 70 Millionen Kommentare, die Leser in den letzten zehn Jahren unter Artikeln hinterließen. Das Ergebnis: Unter den zehn am häufigsten beschimpften Autoren sind acht Frauen –und zwei schwarze Männer. Von den Frauen sind vier People of Color. Eine Frau ist muslimisch, eine jüdisch und zwei lesbisch. In der Redaktion des „Guardian“ arbeiten allerdings vor allem: weiße Männer.
Je männerdominierter ein Ressort, desto mehr Hasskommentare bekamen die Journalistinnen des „Guardian“ ab. Diese Regel scheint nicht nur für den englischsprachigen Raum zu gelten.
In „Männerdomänen“ brauchen Frauen eine besonders dicke Haut
Über der deutschen Sportreporterin Claudia Neumann zum Beispiel entlud sich ein massiver Shitstorm, als sie während der letzten Fußball-EM ein Match kommentierte. „Wieso kommentiert das Spiel eine Frau“, schrieb ein Nutzer mit gedrückter Hochstelltaste. „Diese schlampe brauch einfach nur ein Pimmel [sic!]“, ein anderer. Die ZDF-Moderatorin, mit der sich viele Kollegen und Zuschauer solidarisch erklärten, ging mit den wüsten Beleidigungen gelassen um.
Ein Shitstorm ist eine Welle negativer Kritik gegen eine Person, Organisation etc. In sozialen Netzwerken können sich Shitstorms rasend schnell verbreiten und dem Betroffenen langfristig schaden.
Eine andere Gefahrenzone: Politik. Hate Speech trifft sowohl jene, die Politik machen – Politikerinnen werden messbar häufiger als ihre männlichen Kollegen beleidigt –, als auch jene, die über Politik berichten: In der österreichischen Wochenzeitung „Falter“ zum Beispiel schrieben im Juni vier prominente Journalistinnen über die Beschimpfungen und Drohungen, die ihnen teils täglich begegnen.
Vielen Usern geht es dabei nicht um konstruktive Kritik, sondern darum, zu schaden. Um nicht zu sagen: zu schänden. Die Journalistin Corinna Milborn zum Beispiel musste über sich selbst lesen: „Man sollte dieser Entarteten die Gebärmutter ziehen, ausspülen und einem Schutzsuchenden als Trinkschlauch auf die Reise in die Wüste mitgeben.“
„Niemand will solche Sätze über sich in der Öffentlichkeit sehen“, schreibt Milborn, „und schon gar nicht durch Reaktionen weitere Postings provozieren.“ Warum sie es trotzdem macht? „Weil ich festgestellt habe, dass es uns allen so geht, sobald wir Männerdomänen kommentieren“, so die Journalistin, „und dass das Konsequenzen hat.“
„If you can’t stand the heat, get out of the kitchen“?!
Wenn Frauen Diskriminierung im Arbeitsumfeld ansprechen, bekommen sie oft zu hören, sie müssten den Job ja nicht machen. Das englische Pendant dazu – „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen“ – wird inflationär verwendet, wenn es um Beleidigungen in männerdominierten Branchen wie der Spiele-Industrie geht. Die kanadisch-amerikanische Medienkritikerin Anita Sarkeesian, die mit der Youtube-Reihe „Tropes vs. Women in Video Games“ eine rege Diskussion über Sexismus in Videospielen anstieß (siehe „Gamergate“), wurde nicht nur wüst beleidigt, sondern auch mit Vergewaltigung und Mord bedroht. Sie musste ihren Wohnort wechseln.
„Hassbotschaften zielen oft direkt darauf ab, Frauen klein zu halten und gerade jene, die sich Einfluss erarbeitet haben, mundtot zu machen“, sagt Sina Laubenstein von „No Hate Speech Movement“. Die Games-Kritikerin Sarkeesian musste zum Beispiel einen Vortrag an der Utah State University absagen, weil mit einem Massaker gedroht wurde, sollte die Feministin sprechen.
Auch wenn die Auswirkungen von Hate Speech in der Regel weniger offensichtlich sind – sie sind nicht minder übel. Die deutsche Aktivistin Anne Wizorek, die mit ihrer feministischen Courage (#Aufschrei) 2014 einen Shitstorm auslöste, sagte in einem Interview über frauenfeindlichen Hass: „Ich weiß, ich bin nicht dumm, ich bin nicht untervögelt und was da noch alles für Beschimpfungen und Drohungen kommen. Und trotzdem arbeitet diese Art Bemerkungen in einem Menschen weiter.“
Um zu verhindern, dass einen Hate Speech nachhaltig verletzt, sollten Betroffene deshalb unbedingt wissen: Hate Speech ist weder okay noch legal. Es verstößt gegen die Menschenrechte. Und: Man kann sich dagegen wehren.
Wer will schon ein Hate-Speech-Knacki sein?
Während sich die Kommentare mancher Trolle durch gezieltes Kontern oder Blockieren bekämpfen lassen, ist bei anderen eine strafrechtliche Anzeige angebracht. Zwar gibt es in Deutschland keine Gesetze, die sich explizit mit Onlinehass auseinandersetzen. Der Justiz ist aber egal, ob Beleidigung, Bedrohung, Verleumdung oder üble Nachrede nun online oder offline passieren. Das Strafmaß dafür beträgt, je nach Schwere und Delikt, bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug.
Urteile, an denen sich Richter orientieren können, gibt es bereits viele: Ein 28-jähriger Bochumer, der auf Facebook postete, Bundeskanzlerin Merkel solle „öffentlich gesteinigt werden“, musste zum Beispiel 2.000 Euro Strafe zahlen. Das Landgericht Kiel verurteilte einen Mann zur Zahlung von 25.000 Euro Schmerzensgeld, weil er aus Rache drei Nacktfotos seiner Ex-Freundin nebst ihrer Adresse und der Bemerkung „…danach!“ ins Netz gestellt hatte.
Man spricht von Slut Shaming, wenn Mädchen oder Frauen für ihr sexuelles Verhalten, ihr Auftreten oder ihren (vermeintlich „provokativen“) Kleidungsstil angegriffen werden. Mit geschlechtsbezogenen Schimpfwörtern wie „Schlampe“ oder „Nutte“ wollen die Täter Schamgefühle auslösen und Frauen abwerten.
Da Hater online in der Regel anonym bleiben, lassen sich über Identität, Herkunft oder Bildungsschicht der Täter oft nur Vermutungen anstellen. Aus der Bundeskriminalstatistik 2015 geht hervor: Angezeigte Beleidigungen mit dem „Tatmittel Internet“ gingen im vergangenen Jahr in 6.228 Fällen von männlichen Tatverdächtigen aus, in 3.672 von weiblichen. Bei den „Beleidigungen auf sexueller Grundlage“ ist der Unterschied noch größer.
Allerdings sind es längst nicht nur Männer, die Frauen online beschimpfen und bedrohen: Das britische Institut Demos durchforstete über einen Zeitraum von drei Wochen Tausende Twitter-Posts nach den Wörtern „slut“ (Schlampe) und „whore“ (Hure). Dabei fanden sie heraus: Die Hälfte der User, die sexistische Tweets verschickten, waren Frauen.
Gibt es natürlich auch: Frauen, die „slut shamen“
„Man kommt schon ins Grübeln, wenn man sich anschaut, wie viele frauenfeindliche Postings von Frauen selbst stammen“, sagt Sina Laubenstein. Einen Grund dafür sieht sie in der Alltagssprache. „Sexistische Witze und Aussagen sind schon fast ‚normal‘ geworden“, sagt Laubenstein. Frauen, die anderen Frauen ihren Erfolg nicht gönnten oder sonst irgendwas gegen sie hätten, würden deshalb oft zu „slut shaming“ greifen.
Um Hate Speech zu bekämpfen, empfiehlt sich deshalb auch, dass jeder und jede die eigenen Worte bewusster wählt: also zum Beispiel Kommentare lieber noch mal durchlesen, bevor man sie abschickt. Und wer im Netz auf Hate Speech trifft, sollte darauf nicht mit Hate Speech antworten – sondern lieber mit schlauen Argumenten, Humor und gegebenenfalls einer Anzeige.
Illustration: Katharina Bourjau