Die Bilder der Demonstrierenden für die katalanische Unabhängigkeit gingen vergangenen Herbst um die Welt – wie sie den Flughafen besetzten, wie sie den Verkehr auf der Autobahn lahmlegten und wie sie ihre Wahrheit auf Bannern kundtaten: Katalonien ist nicht Spanien!
Kurz zuvor hatte der Oberste Gerichtshof in Madrid die Anführer der katalanischen Separatisten u. a. wegen Aufstands zu neun bis 13 Jahren Haft verurteilt. Die hatten 2017 ein Unabhängigkeitsreferendum organisiert, das gegen die spanische Verfassung verstieß. „Dieser Tag war ein traumatisches Erlebnis für mich. Ich war wählen, dann kam die Polizei und hat mich geschlagen“, erinnert sich Aljosa Ajanovic Andelic. „Ich habe mich wie in einem kolonialisierten Land gefühlt. Das war nicht meine Polizei, sie wurde aus Spanien geschickt, um uns zu schlagen.“ Der 29-Jährige arbeitet für „Òmnium Cultural“, eine Organisation, die sich für den Schutz und die Förderung der katalanischen Kultur einsetzt.
Der Konflikt beruht auch auf der Zeit des spanischen Faschismus: 1936 putschten spanische Nationalisten mithilfe von deutschen Nationalsozialisten und italienischen Faschisten gegen die demokratisch gewählte Regierung. Nach einem dreijährigen Bürgerkrieg wurde unter Francisco Franco eine Diktatur errichtet, in der jegliche Opposition unterdrückt und regionale Kulturen verboten wurden – auch die katalanische.
Vergangenheitsbewältigung: nada
Nach Francos Tod 1975 und dem von König Juan Carlos geleiteten Übergang zur Demokratie wurden die Verbrechen der Diktatur über Jahrzehnte kaum aufgearbeitet. Bis 2005 stand sogar auf einem Platz in Madrid eine sieben Meter hohe Statue des Diktators, der im Valle de los Caídos begraben wurde, einer monumentalen Gedenkstätte, in der neben dem Diktator Tausende im spanischen Bürgerkrieg gefallene Soldaten – Franco-Anhänger wie Kämpfer gegen den Faschismus – bestattet wurden. Erst im vergangenen Jahr wurde Franco nach anhaltenden Protesten umgebettet.
Dass die Zentralregierung in Madrid die Verklärung des Faschismus lange Zeit duldete, hat das Misstrauen der Katalanen gefördert – und damit auch den Wunsch, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Dabei sei der falsche Eindruck erweckt worden, dass nur die Katalanen Opfer des Franco-Regimes gewesen seien, sagt José Ignacio Torreblanca, ein 52-jähriger Politologe. „Die schlimmsten Verbrechen passierten aber an der Frontlinie in Madrid, in Badajoz, in Andalusien und Extremadura, in Asturien und Galicien. Nicht am Rande des Landes, in Katalonien. Alle Spanier waren Opfer des Franquismus.“ Für Torreblanca spalten die katalanischen Separatisten mit ihren Opfererzählungen nicht nur die spanische Gesellschaft, sondern auch das europäische Projekt, das von der Überwindung der Kleinstaaterei lebt. So verbreitet beispielsweise ein Geschichtsinstitut in Barcelona Theorien, dass der Autor von „Don Quijote“ Katalane war, die katalanische Originalversion aber von den Spaniern vernichtet wurde. Auch Christoph Kolumbus war ihnen zufolge Katalane, Leonardo da Vinci und William Shakespeare ebenso. Trotz dieser offensichtlichen Geschichtsfälschungen unterstützen Politiker und Organisationen, die der katalanischen Regionalregierung nahestehen, das Institut.
Auf das „Projekt Unabhängigkeit“ fokussiert sich nur eine Hälfte der Katalanen
Die katalanische Gesellschaft ist gespalten. „Katalonien hat eine gemischte, zweisprachige Bevölkerung“, sagt Torreblanca, „aber das Projekt Unabhängigkeit fokussiert sich nur auf eine Hälfte.“ Tatsächlich würden nach jüngsten Umfragen rund 45 Prozent der Katalanen für und fast 47 Prozent gegen die Unabhängigkeit stimmen. Wobei sich der Teil, der die Unabhängigkeit will, in seinen Vorbehalten immer wieder von der spanischen Regierung bestätigt fühlt, die eine ernsthafte Thematisierung des Konflikts scheut und sich stattdessen hinter der Justiz versteckt und auf Gewalt setzt.
Oscar Bellera aus Barcelona, der beim Referendum noch für die Unabhängigkeit stimmte, hat seine Meinung inzwischen geändert. „Als sie nach der symbolischen Abstimmung die Unabhängigkeit erklärten, wobei sie über alle Gesetze hinwegsahen und das Parlament auflösten, war das irgendwie totalitär“, sagt er. „Es ging nicht mehr darum, fairere Lösungen für die Menschen in Katalonien zu finden, sondern einzig um die Unabhängigkeit.“ Wer nicht mitmache, sei ein schlechter Katalane.
Das Titelbild zeigt die Umbettung von Francos Leichnam. Foto: Getty Images