Der Name des Stadtteils ist zynisch: Friedensinsel – Isla de la paz. Denn das Leben hier ist seit Jahren zum Fürchten. Regelmäßig gibt es Tote bei Schießereien, Vertreibungen und Zwangsrekrutierung Minderjähriger durch Paramilitärs. Mittendrin: die 28-Jährige Norfalia Trompeta. Zusammen mit ihren drei Kindern, ihrem Freund und ihrem 16-jährigen Bruder lebt sie in einem der gefährlichsten Viertel der kolumbianischen Hafenstadt Buenaventura.
„Wir sind hier nicht erwünscht“, sagt Trompeta. Sie läuft über eine Lehmstraße an behelfsmäßigen Bauten vorbei. Bis zu dem Eingang des Hauses, das ihr Vater gebaut hat. Aber er hat es hier nicht mehr ausgehalten und ist bereits vor Jahren aufs Land gezogen. Seitdem lebt die ganze Familie vom Einkommen ihres Freundes.
Es war nie einfach, hier zu leben, sagt sie – und meint die Comuna 6, einen Bezirk am Wasser. Er verbindet die Innenstadt, die auf einer Art Halbinsel liegt, mit dem Festland. Es gibt kaum fließend Wasser, der Strom funktioniert meist nur einige Stunden am Tag. Unpraktisch, ja. Doch in den letzten Monaten bekomme sie es zusätzlich mit der Angst zu tun. Es kämen Leute, die den Bewohnern für kleines Geld ihre Häuser abkaufen wollten. „Wer nicht zustimmt, wird bedroht“, sagt sie. Viele ihrer Nachbarn seien schon umgezogen
Seit Beginn des Jahres erleben die Menschen hier ein Ausmaß an Gewalt wie lange nicht: Mehr als 40 Tote, mindestens 13 Vermisste und über 8.000 Vertriebene zählt die UNO bis Mitte März allein in der Stadt und der näheren Umgebung. Im Vergleich: 2020 zählte die NGO Indepaz nur sechs Todesopfer.
Als Grund werden immer wieder die Machtkämpfe der bewaffneten Gruppen angeführt, „Los Chotas“ und „Espartanos“ heißen sie. Es geht um Drogenhandel, um illegale Waffengeschäfte. Doch Aktivisten und Bewohner zeichnen ein anderes Bild: Der Hafen, in dem mehr als die Hälfte des internationalen Handels stattfindet, soll expandieren. Und die Nachbarn sind im Weg.
Müssen die Bewohner dem Hafen weichen?
„Natürlich gibt es Drogenhandel und bewaffnete Gruppen“, sagt Danelly Estupiñán. „Doch die kämpfen normalerweise unter sich. Hier gibt es Angriffe und Einschüchterungsversuche gegen Bewohner in Vierteln, die wirtschaftlich interessant sind.“ Estupiñán ist Menschenrechtsaktivistin in Buenaventura. Immer wieder erhält sie Todesdrohungen. Als 2019 ein Mordkomplott gegen sie aufflog, verließ Estupiñán für einige Zeit das Land.
Ausschließlich kriminelle Gruppen für die Gewalt verantwortlich zu machen greift für sie zu kurz: „Das Ausmaß der Gewalt, das wir mit dem Ausbau legaler wirtschaftlicher Projekte wie der Hafenzone erleben, ist nicht im Ansatz vergleichbar mit den Kriegen zwischen Drogenbanden.“ Sie glaubt, dass es Verflechtungen gibt: Die Banden werden ihrer Meinung nach bezahlt, um Gewalt in den Vierteln zu schüren.
Norfalia Trompeta läuft zu einem der Meeresarme, die sich rund um die Bucht tief in die Küste graben. Ihre Tochter Aileen klettert die Böschung hinunter und planscht mit einigen Nachbarskindern am Ufer. „Früher sind meine Kinder hier noch richtig schwimmen gegangen, das aber geht nicht mehr“, sagt Trompeta. Irgendwann seien Männer aufgetaucht und hätten gesagt, die Meeresarme wären jetzt privat. Wer sie geschickt hat, kann sie nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie habe eine Ahnung, sogar mehr als nur das: Mit dem Kinn deutet Trompeta Richtung Wald.
Dort, wo die Bäume den Horizont unverdeckt lassen, blitzt ein Container mit der Aufschrift „Hamburg Süd“ durch das Grün. In den vergangenen Jahren wurden rund um dieses Gebiet Containerterminals gebaut. Entlang der Vía Alterna Interna, die den Hafen mit dem Landesinneren verbindet. Sie führt heute mitten durch die Comuna 6. Mit dem Bau der Straße kam das Interesse am Bezirk.
Anders als Trompeta haben viele der Bewohner, die bereits Jahrzehnte hier leben, keine Besitzurkunden für die Grundstücke, auf denen ihre Häuser stehen. In Kolumbien ist das gerade in ärmeren Schichten nicht üblich. Ein Problem, als plötzlich Firmen und Anwälte auftauchten, die scheinbar aus dem Nichts Besitzansprüche vorlegten. Ob das rechtens war, lässt sich nicht oder nur schwer nachvollziehen. Auf alle Fälle kamen mit den Besitzansprüchen mehr Waffen, mehr Einschüchterung und auch mehr tatsächliche Gewalt.
Doch nicht alle lassen sich einschüchtern. Da ist zum Beispiel Temístocles Machado, ein Bewohner der Comuna 6, der sich lautstark wehrte. Er sammelte Dokumente und setzte sich eine Zeit lang erfolgreich dafür ein, dass den Bewohnern offizielle Besitzurkunden ausgestellt werden. 2018 wurde er erschossen – nur etwa 20 Meter Luftlinie von Trompetas Haus entfernt. Seit dem Mord an Machado haben viele Grundstücksbesitzer, die auf ihre Besitzurkunde warten, weder von der regionalen Baubehörde noch vom Stadtrat gehört.
Trotz solcher Unklarheiten spricht der Präsident der Hafengesellschaft von Expansion. Es gibt laut Angaben der nationalen Baubehörde ANI derzeit vier Expansionsprojekte. Eines davon direkt im Estero El Aguacate, dem Meeresarm, der an die Comuna 6 angrenzt. Auf eine Anfrage antwortet die Behörde knapp, dass man die Belange der Bewohner in die Planung miteinbeziehe. Weitere Anfragen für diesen Artikel – etwa an die Hafengesellschaft, das Innenministerium und die Verwaltung eines Containerterminals – blieben unbeantwortet.
Aktivisten vermuten hinter der Untätigkeit der Behörden eine Strategie
Für Olga Araújo Casanova ist das keine Überraschung. Sie arbeitet für Nomadesc, eine NGO, die sich seit mehr als 20 Jahren mit der Pazifikregion Kolumbiens beschäftigt. „Schweigen gehört hier zur Strategie“, sagt sie. „Wir beobachten seit Jahren eine Vertreibung der Bevölkerung am Wasser, aber niemand will es gewesen sein. In der Zwischenzeit wird fleißig weitergebaut.“
Den Einsatz für Grundstückstitel findet sie zwar richtig, glaubt aber nicht daran, dass die Vertreibungen damit gestoppt würden. „Ständig unter Verwahrlosung und Gewalt zu leben macht Menschen mürbe“, sagt sie. „Ich sehe darin eine Strategie.“ Denn anstatt an nachhaltigen Lösungen zu arbeiten, schicke das Innenministerium vor allem Militärs und rühme sich, wenn einzelne Bandenmitglieder gefasst würden.
Ob es wirklich einen Zusammenhang zwischen der Gewalt und dem Hafenausbau gibt, lässt sich schwer beweisen. „Das Narrativ der NGOs vor Ort ist verständlich“, sagt Felipe Fernández Lozano, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin. „Doch ob die Hafenbetreiber und die bewaffneten Gruppen gemeinsame Sache machen, wie gern angedeutet wird, ist anzuzweifeln.“ Es könne ebenso gut sein, dass sich die Interessen gleichen: Was den Gruppen hilft, hilft auch dem Hafen. Denn auch der Drogenhandel, durch den sich die Gruppen finanzieren, profitiert von der Kontrolle der Gebiete in Hafennähe. „Trotzdem kann man davon ausgehen, dass die Hafengesellschaft mit den Vertreibungen rechnet und dementsprechend plant.“
Ob gemeinsame Sache oder nicht: Aufgeben oder standhalten, das ist eine Entscheidung, die die Menschen hier jeden Tag aufs Neue treffen müssen.
Hinzu kommen die schwierigen Umstände in Buenaventura: 41 Prozent der Bevölkerung leben nach einer Umfrage des nationalen Statistikamtes DANE in Armut, 89 Prozent arbeiten im informellen Sektor, also schwarz. Die Chancen auf Arbeit, die ein Hafen normalerweise mit sich bringt, bleiben aus. Höchstens als Wachmann oder Betonmischer würden einige wenige Bewohner angestellt – schlecht bezahlt und auch nur tageweise, erzählt Trompeta. Der Grund, den viele hier anführen: der Rassismus im Land. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung Buenaventuras sind schwarz. „Eher werden weiße Ingenieure aus Bogotá geholt, als den Posten einem Schwarzen zu überlassen“, sagt Trompeta.
Auf Hilfe von ihren politischen Vertretern konnte sich die Bevölkerung in der Vergangenheit nicht verlassen: Die letzten vier Bürgermeister landeten wegen Korruption im Gefängnis. Doch als vor einem Jahr Victor Hugo Vidal ins Amt gewählt wurde, ein ehemaliger Aktivist, hatten viele die Hoffnung, dass sich etwas ändert.
Nach einem Jahr im Amt zeigt sich Vidal ernüchtert. Bei einem Besuch internationaler Organisationen und von Botschaftsmitarbeitern unter anderem der EU, Deutschlands und Frankreichs im Februar sagte er: „Ich habe als Bürgermeister in Buenaventura nicht die Durchsetzungskraft, gegen regionale und nationale Strukturen anzukommen, die hier eine Rolle spielen.“ Und an seinen internationalen Besuch gewandt: „Die Gewalt in Buenaventura ist auch ein internationales Problem.“
Denn Exportunternehmen, aber auch Reedereien wie Hamburg Süd und Maersk profitieren von einem Hafenausbau. In Buenaventura kollidieren nationale und internationale Interessen mit denen vieler Anwohner:innen, und ihre Sicherheit kann am Ende nicht gewährleistet werden.
Schon 2017 erkannten die Bewohner Buenaventuras darin eine Machtposition: Sie blockierten die Stadt und ihre Zufahrtsstraßen. 22 Tage lag der Hafen während des „paro cívico“, dem „Zivilstreik“, still. Bis die Regierung sich mit den Streikenden einigte: auf Investitionen in Gesundheit und Bildung, aber auch auf ein Mitspracherecht der Bevölkerung bei Bauvorhaben.
Bis heute sind viele Punkte dieser Einigung nicht erfüllt. Und die Bevölkerung macht nun wieder auf sich aufmerksam: Seit Jahresbeginn gibt es immer wieder Proteste. Im Februar bildeten Demonstrierende eine 21 Kilometer lange Menschenkette für den Frieden und ein Leben mit Menschenwürde.
Die letzte Hoffnung der Bewohner: eine Blockade
Die Bewohner haben durch den „paro cívico“ verstanden, dass der Hafen ihnen auch eine Chance bietet: Mit einer Blockade können sie sich Gehör verschaffen. „Wenn die Versprechen der Politik an die Bevölkerung nach dem ‚paro cívico‘ nicht eingehalten werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu Blockaden zurückzukehren“, sagt der Protestsprecher Leonard Rentería.
Für Norfalia Trompeta sind diese Proteste die einzige Hoffnung. Vor einigen Tagen seien nachts Männer gekommen, die ein Haus direkt gegenüber von ihrem Eingang zerstört haben. Anders als viele Nachbarn will sie trotz ihrer Angst nicht von hier weg – zumindest bis ihr Bruder und ihre Kinder die Schule abgeschlossen haben.
Alleine würde sie sich nicht trauen, gegen die Zustände vorzugehen. Zu häufig wurden Menschen umgebracht, die den Mund aufgemacht haben. Doch wenn alle gemeinsam aufstehen, glaubt sie, kann sie niemand mehr zum Schweigen bringen.
Titelbild: Daniel Acosta