Die Tür zu den Vereinsräumen der „Neuen Nachbarschaft/Moabit“ fliegt auf, und Mazen Alsawaf, ein 53-jähriger kleiner Mann aus Syrien mit aufgeweckten braunen Augen, stürzt hinein, huscht an Leyla vorbei und verschwindet in der Küche. Leyla Nurmuhamed, eine 55 Jahre alte Frau mit langen schwarzen Rastazöpfen und einem neongelben T-Shirt, hebt den Blick von einem Büschel Petersilie, das auf dem wackeligen Tisch vor ihr liegt. „Du kommst immer dann, wenn die Arbeit schon getan ist!“, ruft sie scherzhaft, doch er kann sie schon nicht mehr hören.
Mazen Alsawaf und Leyla Nurmuhamed waren zwei von über einer Million Langzeitarbeitslosen in Deutschland, doch in diesem Jahr haben sie seit langem wieder Hoffnung, dieser Situation zu entfliehen. Als Langzeitarbeitslose werden Menschen bezeichnet, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind. Im Mai 2021 machten sie laut Bundesagentur für Arbeit 39,6 Prozent aller ca. 2,69 Millionen Arbeitslosen in Deutschland aus. Betroffene leiden häufiger unter Suchtkrankheiten, Perspektivlosigkeit, psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Mutlosigkeit und dem Gefühl, das eigene Leben nicht mehr beeinflussen zu können. Kurz gesagt: Arbeitslosigkeit kann krank machen und die Betroffenen isolieren.
Der Berliner Verein „Neue Nachbarschaft/Moabit“ will solchen Menschen helfen. Im Juni eröffnete er das jahrelang brachliegende Strandbad Tegel im Norden Berlins neu. Die Idee dahinter: einen Ort schaffen, an dem Familien, Jugendliche und Kinder zusammenkommen können, und gleichzeitig Menschen Arbeit geben, die auf dem Arbeitsmarkt vor hohen Hürden stehen. 40 Arbeitsplätze sollen in dem Projekt entstehen, hauptsächlich niedrigschwellige Anstellungen in der Gastronomie, als Hausmeister oder Rettungsschwimmer, an der Kasse oder bei der Badeaufsicht. Viele Geflüchtete wie Mazen Alsawaf sollen hier Arbeit finden, aber auch Menschen wie Leyla Nurmuhamed, die vor langer Zeit aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind und den Wiedereinstieg nicht geschafft haben.
„Ich liebe es, für viele Menschen zu kochen“
Auf dem Strandbad-Gelände leitet Alsawaf den „Snackpoint“, einen Imbiss, in dem er Falafel- und Halloumi-Sandwiches verkauft. Geplant ist, dass er einmal das auf dem Areal entstehende Restaurant leiten soll. „Es ist ein Traum. Ich liebe es, für viele Menschen zu kochen, vor allem wenn Familien mit ihren Kindern kommen“, sagt er. Leyla Nurmuhamed arbeitet ihm zu, schneidet Salat, Tomaten, Gurken und Petersilie, frittiert Pommes, nimmt Bestellungen entgegen, während Mazen Falafelbällchen formt. Auch sie hofft nach der Anfangsphase auf eine feste Anstellung im Bad. Derzeit arbeiten die Helfenden dort noch ehrenamtlich. Nurmuhamed darf kostenlos in den Räumlichkeiten des Nachbarschaftsvereins wohnen.
Wer einmal in die Langzeitarbeitslosigkeit geraten sei, finde nur schwer wieder heraus, sagt Holle Grünert vom Zentrum für Sozialforschung in Halle. „Die Leute werden oft passiv und trauen sich zunehmend weniger zu.“ Gefährdet seien vor allem ältere Menschen, Menschen mit geringeren Bildungsabschlüssen, psychischen Problemen oder Vorerkrankungen. Dennoch müsse man die Fälle stets individuell betrachten, so Grünert.
Alsawaf und Nurmuhamed lernen sich 2017 in den Vereinsräumen der „Neuen Nachbarschaft/Moabit“ kennen, wo zu diesem Zeitpunkt viele Geflüchtete am Deutschstammtisch teilnehmen. Seitdem kochen sie gemeinsam und besprechen ihre Probleme zwischen zischenden Fritteusen und Säcken voller getrockneter Kichererbsen. Sie seien wie Geschwister, sagen beide. Was verbindet sie? „Wir lassen uns nicht unterkriegen“, sagt Leyla Nurmuhamed. Denn ihr Leben ist nicht immer einfach gewesen.
Sie wächst in einem knapp 5.000 Seelen zählenden Dorf bei Kaiserslautern auf, macht einen Hauptschulabschluss, beginnt mit 16 zu arbeiten, wird mit 25 Witwe und alleinerziehende Mutter zweier Kleinkinder. Sie verfällt in eine schwere Depression. „Mein Körper hat funktioniert, aber meine Seele war schon lange tot“, sagt sie heute.
Als Alsawaf 2016 nach Berlin flieht, ist er Ende 40 und muss von vorne anfangen. Deutsch fällt ihm schwer, im Juni fällt er durch seine B2-Prüfung. In Syrien habe er 20 Jahre lang in der Bankettabteilung des Sheraton-Hotels in Damaskus gearbeitet. In Deutschland hätte er als Tellerwäscher anfangen können. Für leitende Stellen in der Gastro reichten seine Sprachkenntnisse zunächst nicht. Im Verein „Neue Nachbarschaft/Moabit“ sind sie davon überzeugt, dass Arbeit das beste Mittel ist, um Selbstbewusstsein aufzubauen und Menschen in die Gesellschaft zu integrieren.
Arbeiten ist mehr als Geldverdienen – es strukturiert den Alltag
Wer arbeitslos ist, leidet häufig nicht nur unter finanziellen Problemen. „Arbeit erfüllt auch Funktionen, die den Menschen oft gar nicht bewusst sind, aber für das Wohlbefinden wichtig sind“, sagt der Psychologe Karsten Paul von der Uni Erlangen-Nürnberg, der zu psychischen Aspekten der Arbeitslosigkeit forscht. Denn Arbeit strukturiert den Alltag, gibt dem Leben einen Sinn und sorgt für gesellschaftliche Anerkennung. „Hierherzukommen hat mein ganzes Leben verändert“, sagt Nurmuhamed. „Auf einmal war ich jemand, der gebraucht wird.“
Für den Snackpoint stehen beide morgens früh auf, denn der Imbiss will jeden Tag frisch bestückt werden. „Ohne Auto geht bei mir gar nichts“, sagt Mazen Alsawaf und springt hinein. Im Inneren des schwarzen VW Golf übertüncht eine Mischung aus Anis, Kardamom und Falafelgewürz den Duft eines alten gelben Wunderbaums, der vom Innenspiegel baumelt. Zwei Lesebrillen mit dünnen Rändern liegen auf dem weichen Leder neben dem Schaltknüppel, drum herum unachtsam aufgerissene Briefumschläge, hinter der Windschutzscheibe ein alter Pappteller, in der Seitentür steckt eine Küchenrolle, Sand und Staub bedecken den Fußraum. Alsawaf ignoriert das Chaos, er muss sich beeilen. „Der Imbiss macht dann auf, wenn ich da bin, aber heute ist das Wetter gut, es werden viele Leute“, sagt er, die linke Hand am Lenkrad, in der rechten sein Handy, und drückt das Gaspedal durch.
Wenige Stunden später steht er in seinem rund acht Meter langen und zwei Meter breiten Reich. Es ist eng und stickig, Fettgeruch hängt in der Luft. Auf den Ablagen türmen sich Plastiktüten mit Gewürzen und Gemüse, ein Karton mit Tomaten, ein Berg Falafelmasse in einer bauchigen Stahlschüssel, an den Wänden hängen Wender, Schlitzlöffel, Kochlöffel, Suppenkellen, Greifzangen, Schaber und Messer. Alsawaf beißt mit kritischem Blick in die erste Fuhre Falafel an diesem Tag. Er kaut, schiebt die Kichererbsenmasse im Mund von links nach rechts und sagt schließlich: „Die müssen noch länger.“
Vor dem Imbiss hat sich da schon eine Schlange gebildet. Sieben Portionen Pommes sind offen, Leyla Nurmuhamed an der Fritteuse kommt kaum hinterher. „Kann ich meine Portion Pommes schon mal haben?“, sagt eine Frau und lugt in den Imbiss. „Haben wir noch Öl, Mazen?“, ruft Nurmuhamed. Er macht eine undeutliche Handbewegung, und sie taucht hinter der Anrichte ab, um in den Unterschränken nach mehr Fett zu suchen. „Heute ist Action hier“, sagt sie, als sie wieder auftaucht. „Aber macht Spaß. Das geht hier wie am Fließband!“
Alsawaf und Nurmuhamed haben im Strandbad Tegel in den vergangenen Monaten mehr gefunden als eine sinnvolle Aufgabe. Der Verein „Neue Nachbarschaft“ sei wie ein Zuhause. „Du kommst als Fremder und gehst als Familie“, sagt Nurmuhamed. Nun bleibt abzuwarten, ob sie beide eine Festanstellung im Bad bekommen. Von den 40 geplanten Anstellungen seien 20 bereits bestimmten Personen versprochen. Verträge gibt es aber noch keine – und man wolle in der Öffentlichkeit keine Aussagen darüber treffen, wer am Ende im Bad angestellt werde, sagte der Verein Neuen Nachbarschaft/Moabit“ auf Nachfrage von fluter.de.