Update: Dieses FAQ wurde vor Russlands Angriff auf die Ukraine geschrieben - und beschreibt die Sanktionsmöglichkeiten der EU deshalb noch am Beispiel des belarussischen Präsidenten Lukaschenko.
Wofür werden Sanktionen gebraucht?
Andere Regierungen haben nicht viele Möglichkeiten einzugreifen, wenn ein totalitärer Staatschef die Leute im eigenen Land foltert. Sie können das diplomatische Gespräch suchen – oder sich um ein UN-Mandat oder eine NATO-Mission bemühen, um ihre Armee einmarschieren zu lassen. Aber verbale Kritik und Diskussionen bringen oft nicht viel, und einen Krieg anzuzetteln ist – zum Glück – meist auch nicht das Mittel der Wahl. Deshalb nutzen Regierungen häufig sogenannte Sanktionen. Das sind Strafmaßnahmen, die ein Staat allein oder gemeinsam mit anderen Staaten beschließen kann – etwa als Teil der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union. Die Maßnahmen sollen den sanktionierten Regierungen klarmachen, dass sie die Werte der Europäischen Union verletzen, und sie im besten Fall dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern.
Welche Sanktionsmöglichkeiten gibt es?
Kurze Geschichtsstunde: Anfang der Neunzigerjahre begann das Zeitalter der Sanktionen. Während des Kalten Krieges hatten die USA und ihre Verbündeten auf der einen sowie die Sowjetunion und ihre Verbündeten auf der anderen Seite den Weltsicherheitsrat oft blockiert, weil sie meistens gegeneinander gestimmt haben. Nach Ende des Kalten Krieges konnten sie sich häufiger auf Strafmaßnahmen einigen, etwa bei den Sanktionen 1990 gegen den Irak und dessen Diktator Saddam Hussein. Der war mit seiner Armee in den Nachbarstaat Kuwait einmarschiert. Wie damals üblich, belegten die Vereinten Nationen die irakische Wirtschaft mit einer Totalblockade. So wollten sie den Diktator in die Knie zwingen. Nur: Während Hussein im Amt blieb, starben laut einer UNICEF-Studie knapp eine halbe Million Kinder, weil sie weder Essen noch Medikamente bekamen. Deshalb gibt es heute kaum noch Totalblockaden, dafür sogenannte smarte Sanktionen, die einzelne Personengruppen und Wirtschaftsbereiche, nicht aber den Großteil der zivilen Bevölkerung treffen sollen. Dann werden zum Beispiel Konten wichtiger Akteure eingefroren, Visa gestrichen oder der Import und Export bestimmter Waren und Rohstoffe verboten.
Wie und wen sanktioniert die EU?
Sanktionen gehören zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Wie viele Abläufe in der EU erfordern auch diese Sanktionsmechanismen, dass viele Akteure mitmachen. Neue Strafmaßnahmen beginnen meist mit einem Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Wenn alle Mitgliedstaaten zustimmen, erarbeitet die Finanzdirektion der EU-Kommission die Maßnahmen. Diese werden dann in den Arbeitsgruppen des Rates besprochen, bevor die Staats- und Regierungschefs erneut alle zustimmen müssen. Das passiert recht oft. Nur die USA verhängen mehr Sanktionen als die EU. Laut Daten des Hamburger Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien beschloss die EU zwischen 1990 und 2015 insgesamt 75 Strafmaßnahmen. Aktuell gelten unter anderem Kontensperrungen, Visabeschränkungen oder Waffenexportverbote für etwa 30 Staaten, darunter Iran, Libyen, Nordkorea, Syrien – und Belarus.
Wann hat die EU erstmals Strafmaßnahmen gegen Belarus ergriffen?
Zwischen der Europäischen Union und Belarus ist es schon länger kompliziert. Das erste Mal verhängte die EU im September 2004 Sanktionen, weil mehrere Oppositionelle entführt worden waren. Als das Regime dann über die Jahre immer wieder nachweislich Wahlen fälschen ließ, wurde die Liste der Sanktionierten länger und länger, bis im Jahr 2013 auch der Name des Präsidenten, Alexander Lukaschenko, darauf landete. Problem nur: Die EU war auf Lukaschenko angewiesen. Nachdem Russland im Jahr 2014 den Osten der Ukraine angegriffen und die Halbinsel Krim annektiert hatte, trat der belarussische Regent als neutraler Vermittler auf. Für die Gespräche lud er in seine Heimat. Das Ergebnis war eine Vereinbarung, die den Frieden sichern sollte, das „Minsker Abkommen“. Die EU nahm infolgedessen 2016 fast alle Sanktionen zurück.
Welche Sanktionen gelten gegen Belarus aktuell?
Das Regime in Belarus hatte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Wahlen beeinflussen oder sogar fälschen lassen. Doch die Gewalt, mit der die Polizei bei den Präsidentschaftswahlen im August 2020 gegen Zehntausende Demonstranten im Land vorging, war beispiellos.
Im Oktober ließen die EU-Staats- und Regierungschefs etwa 40 Personen auf eine Sanktionsliste setzen, die friedlich Demonstrierende, Journalistinnen und Journalisten und Oppositionsmitglieder unterdrückt und eingeschüchtert haben sollen. Deren Konten wurden gesperrt und Visa gestrichen. Lukaschenkos engste Unterstützer konnten nun nicht mehr in Paris einkaufen oder an der Côte d’Azur urlauben. Wenige Monate später, im November 2020, nicht lange nach der letzten Präsidentschaftswahl, stand dann auch der Name des Präsidenten selbst sowie der seines Sohnes, Viktor Lukaschenko, auf der Liste; er ist Sicherheitsberater des Regimes. Aktuell umfasst die Liste 166 Belarussinnen und Belarussen aus Lukaschenkos Umfeld.
Wie landet man auf der Liste?
Die Brüsseler Bürokraten müssen gut belegen, warum der Name einer Person auf der Liste landet. Denn in der Vergangenheit hatten mehrfach Menschen gegen ihren Listenplatz geklagt – und das zuweilen mit Erfolg. Im Jahr 2013 bestätigte der Gerichtshof der Europäischen Union sein Urteil, dass ein angeblicher Al-Kaida-Unterstützer von einer Sanktionsliste gestrichen werden musste. Die Gründe waren nicht ausreichend.
Warum wurden die Sanktionen 2021 verschärft?
Als Lukaschenko Ende Mai eine Ryanair-Maschine zur Landung zwingen ließ, um den oppositionellen Blogger Roman Protassewitsch festnehmen zu lassen, wurden die Sanktionen erweitert. Neben einzelnen Personen hat die EU auch Strafmaßnahmen für bestimmte Wirtschaftssektoren beschlossen. So wurde der Handel mit Mineralölprodukten und Düngemitteln eingeschränkt – beides für Belarus wichtige Wirtschaftsgüter. Beobachter meinen, dass die Wirtschaft des Landes um zwei bis drei Prozent schrumpfen könnte. Die Folgen würden die gesamte belarussische Bevölkerung treffen.
Können die Sanktionen Lukaschenko stoppen?
Bisher nicht. Während der Olympischen Spiele in Tokio sollen belarussische Behörden versucht haben, eine Athletin zu entführen, da sie sich öffentlich kritisch über die belarussischen Sportfunktionäre geäußert hatte. Wenige Wochen später, am Jahrestag der gefälschten Wahlen, demonstrierte aus Angst vor Folter und Festnahmen niemand auf den Straßen Minsks.
Warum dann überhaupt Sanktionen?
Der niederländische Sanktionsforscher Peter van Bergeijk kam vor einigen Jahren bei der Auswertung einer Sanktionsdatenbank zu dem Ergebnis, nur eine von drei EU-Sanktionsmaßnahmen sei erfolgreich gewesen. Allerdings: Niemand weiß, was ohne die Sanktionen gewesen wäre. Es ist unklar, ob Lukaschenko nicht vielleicht noch brutaler gegen seine Kritikerinnen und Kritiker vorgegangen wäre, wenn die EU sein Verhalten nicht bestraft hätte. Zudem sollen Sanktionen nie „nur“ das Verhalten eines Regimes ändern. Den Staats- und Regierungschefs der EU dürfte klar sein, dass Lukaschenko nicht zurücktreten wird, weil ein paar Konten seiner Unterstützer gesperrt und ein paar Visa gestrichen worden sind. Stattdessen wollten sie Signale senden. An die EU-Bevölkerung: dass die Mitgliedsländer die eigenen Werte verteidigen. An die belarussische Opposition: dass die EU an ihrer Seite steht. An die belarussische Regierung: dass die EU die Verbrechen nicht duldet. An Regime anderswo: dass Menschenrechtsbrüche nicht folgenlos bleiben.
Was nun?
Unlängst versuchte Lukaschenko, die Europäische Union sogar an den Verhandlungstisch zu zwingen. Er schickte seit Jahresbeginn Tausende Geflüchtete aus dem Irak und Syrien weiter über die Grenze nach Litauen. Das stürzt die EU-Staaten in ein Dilemma: Sollen sie ihre harte Grenzpolitik aufrechterhalten oder den Menschen humanitäre Hilfe anbieten, die unter teils unerträglichen Bedingungen an der Grenze ausharren? Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell stellte „weitere Maßnahmen“ in Aussicht. Sanktion folgt auf Sanktion. Und so könnte es noch eine Weile weitergehen.
Titelbild: Aleksander Kalkax / imago