Wenn Dorna nicht weiterkommt, wendet sie sich an Herrn Spiegel. So wie am Vorabend ihrer letzten Matheklausur. Tagelang übte die Zwölftklässlerin Kurvendiskussionen, berechnete Nullstellen und Wendepunkte. Ausgerechnet in der Nacht vor der Prüfung kommt sie bei einer Übungsaufgabe nicht auf die Lösung. Dorna nimmt ihr Telefon in die Hand und ruft den Bio-Lehrer ihrer alten Schule an. Eine halbe Stunde später weiß sie, wo ihr Fehler liegt – und wie sie die Aufgabe lösen kann.
Was bei herkömmlichen Lehrkräften undenkbar wäre, ist für Herrn Spiegel und seine Kollegen an der Berliner Quinoa-Schule Alltag. Jeder Schüler hat hier seinen persönlichen Tutor, der ihn durchs Schuljahr begleitet und auch mal Nachhilfe außerhalb des Unterrichts gibt. Selbst Ehemalige, die ihren Abschluss bereits in der Tasche haben und nun eine Ausbildung machen oder eine weiterführende Schule besuchen wie die 16-jährige Dorna, dürfen sich jederzeit mit Fragen melden. Die „Anschlussbegleitung“ ist Teil des pädagogischen Konzepts der Quinoa-Schule. Das Ziel: Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien im Schulalltag besser unterstützen – und möglichst bis zum Abschluss führen.
Die Quinoa-Schule ist damit eine der ungewöhnlichsten Bildungsstätten des Landes: Das beginnt bei ihrem Namen. Da das Getreide Quinoa unter widrigen Bedingungen wachsen kann, soll der Schulname Familien im Berliner Stadtteil Wedding Hoffnung bringen, in dem es Kinder oftmals schwerer haben als in anderen Bezirken der Stadt.
„Wenn Chaos im Kopf ist, ist kein Platz für Mathe“
Ungewöhnlich an der Schule ist auch ihre Zielgruppe. Im Gegensatz zu anderen Privatschulen spricht sie nicht vermögende Eltern an, sondern gezielt die weniger Wohlhabenden. Auch das Schulgeld von 35 Euro im Monat widerspricht dem Klischee von elitären Privatschülerinnen und -schülern, zumal die meisten Eltern davon befreit sind. Die Schule ist staatlich anerkannt und bekommt das meiste Geld vom Staat, der Rest muss durch Spenden und Schulgeld reinkommen. Es ist ein bildungspolitisches Experiment: Kann ausgerechnet solch eine Privatschule dem Staat vormachen, wie man die Ungleichheit im Bildungssystem ausgleichen kann?
In kaum einem anderen westlichen Industrieland werden die Bildungschancen so stark vererbt wie in Deutschland. Wer aus einer sozial benachteiligten Familie kommt, hat deutlich schlechtere Chancen, aufs Gymnasium zu kommen – oder überhaupt einen Schulabschluss zu machen. Jedes Jahr brechen bundesweit etwa 50.000 Jugendliche die Schule ab. Im Bezirk Mitte, zu dem der Stadtteil Wedding zählt, verlässt jeder Achte die Schule ohne Abschluss, Förderschüler nicht mitgerechnet. Vor gravierenden Folgen warnt der Nationale Bildungsbericht 2020: Nur ein Viertel der Jugendlichen ohne Schulabschluss finde einen Ausbildungsplatz. Bei denen, die zumindest die Mittlere Reife schaffen, sind es bereits über 80 Prozent.
Pantelis Pavlakidis kennt die Schicksale hinter den Statistiken. Der 35-Jährige ist seit 2018 Leiter der Quinoa-Schule. „Ohne Unterstützung kommen viele Jugendliche hier nicht aus der Armutsfalle raus“, sagt Pavlakidis. Drei Viertel seiner rund 160 Schülerinnen und Schüler kommen aus Familien, die Hartz IV beziehen. Die wenigsten Eltern haben einen höheren Bildungsabschluss, viele sprechen kaum oder gar kein Deutsch. Oft wohnten die Familien auch sehr beengt, viele Schüler hätten zu Hause weder Platz noch Ruhe, um Hausaufgaben zu machen, erzählt Pavlakidis. Hinzu kämen häufig noch Diskriminierungserfahrungen, über 80 Prozent der Quinoa-Schüler haben eine Einwanderungsgeschichte. „Unser Motto ist: Wenn Chaos im Kopf ist, ist kein Platz für Mathe“, so Pavlakidis. Deshalb müsse sich nicht jede Stunde um Schulstoff drehen.
Das erkennt man schon an der Stundentafel. Im Schulfach „Zukunft“ sollen sich die Jugendlichen über mögliche Berufsziele und Ausbildungswege Gedanken machen, im Fach „Interkultu- relles Lernen“ über Fremd- und Eigenzuschreibungen. Einmal habe seine Klasse über ein Jahr hinweg regelmäßig ein Seniorenheim besucht, berichtet Pavlakidis. „Stigmatisierte Jugendliche aus dem sozialen Brennpunkt unterhalten sich mit alten weißen Biodeutschen. Das hat auf beiden Seiten Vorurteile abgebaut.“ Das wichtigste Instrument gegen einen Schulabbruch aber sei Beziehungsarbeit. Damit dafür genügend Zeit bleibt, setzt die Quinoa-Schule die Unterrichtsverpflichtung ihrer Lehrkräfte deutlich niedriger an als staatliche Schulen. Ein Viertel der Arbeitszeit, schätzt Pavlakidis, können er und seine Kollegen stattdessen in Elternarbeit, Mediation, Klassenzeit und die Tutorengespräche stecken. „Wer nur sein Fach unterrichten möchte, wird an der Quinoa- Schule wahrscheinlich nicht glücklich.“ Die Bereitschaft, sich mit den Sorgen der Schüler und Schülerinnen auseinanderzusetzen, stehe an oberster Stelle.
Entscheidend ist, wie viel Zeit sich Lehrer nehmen
Das kann Ex-Schülerin Dorna bestätigen. „An der Quinoa-Schule nehmen sich die Lehrer viel Zeit für die Schüler und ihre Fragen“, sagt sie. An ihrer jetzigen Schule sei das ganz anders. Vor anderthalb Jahren hat sie an der Quinoa-Schule ihren Mittleren Schulabschluss gemacht. Jetzt geht sie auf eine gymnasiale Oberstufe und lernt bis in die Nacht für ihr Abi.
„Ich will Medizin studieren und Ärztin werden“, sagt Dorna. Sollte sie das schaffen, wäre sie eine Ausnahme. Von 100 Kindern aus Nichtakademikerfamilien nehmen nur 27 ein Studium auf, bei Kindern von Akademikern sind es selbst bei gleichen Schulleistungen 79. Seit Jahren kritisieren Bildungsforscherinnen und -forscher, dass Kinder aus Familien mit niedrigen Bildungsabschlüssen und Einwandererfamilien selbst bei gleichen Schulleistungen seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten.
Dornas Mutter stammt aus dem Iran, sie zog ihre Tochter allein groß und hat nicht studiert. Für Dorna waren die Chancen, irgendwann zu studieren, viel geringer als bei vielen Gleichaltrigen, deren Eltern in Deutschland geboren sind, sich die Erziehungsarbeit aufteilen, besser verdienen und Akademiker sind. So hatte Dorna zum Ende der Grundschule auch keine Empfehlung für das Gymnasium, sondern nur mittelmäßige Noten und wenig Motivation, für die Schule zu lernen. Durch Zufall erfuhr ihre Mutter von der neuen Privatschule und meldete Dorna an. In vier Jahren auf der Quinoa-Schule erarbeitete sich ihre Tochter einen Notenschnitt von 1,3.
Darf's noch was sein?
Was muss heute jeder wissen? Wir haben gefragt, ihr habt geantwortet. Das ist euer alternativer Bildungskanon
„Als Dorna zu uns an die Schule kam, habe ich ihr das ehrlich gesagt nicht zugetraut“, sagt Schulleiter Pantelis Pavlakidis, den Dorna als Klassenlehrer hatte und der ihr in den ersten beiden Jahren als Tutor zur Seite stand. Spätestens seit ihrem Schnupperpraktikum in einer Klinik, das sie durch die Vermittlung ihres Bio-Lehrers Spiegel bekam, habe Dornas Berufswunsch jedoch festgestanden. „Wie sie seither dieses Ziel verfolgt, beeindruckt mich“, so Pavlakidis. Und: Dornas Entwicklung zeige, dass das Quinoa-Konzept wirke.
Dafür sprechen auch die Zahlen. In der ersten Abschlussklasse 2018 schafften 88 Prozent der Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss, 2019 dann 92 Prozent, 2020 sogar alle. Im Vergleich zu den staatlichen Schulen im Bezirk erzielten die Quinoa-Schüler in allen drei Jahren die besseren Ergebnisse.
Und auch die Anschlussbegleitung scheint sich bezahlt zu machen. Von den ersten drei Abschlussjahrgängen hat ein Drittel eine Ausbildung begonnen, der Rest besucht – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – eine weiterführende Schule. Hält die Quinoa- Schule also, was sie verspricht?
Larissa Zierow vom ifo Zentrum für Bildungsökonomik in München hält das Konzept für vielversprechend: „Wir wissen aus der Forschung, wie wertvoll Mentoringprogramme bei sozial benachteiligten Jugendlichen sein können. Intensive Beziehungsarbeit kann die soziale Ungleichheit zu einem gewissen Grad ausgleichen.“ Wenn das an der Quinoa-Schule die Lehrkräfte leisten könnten, auch gut. Als Modell für staatliche Schulen hält Zierow die intensive Betreuungsarbeit aber für nicht machbar, dafür fehle schlicht Geld und Personal – weswegen es schon lange politische Forderungen gibt, Schulen finanziell mehr zu fördern.
Um die soziale Ungleichheit im Bildungssystem flächendeckend anzugehen, schlägt sie den Ausbau der Kita- und Ganztagsbetreuung oder ein längeres gemeinsames Lernen mindestens bis zur achten Klasse vor. „Die Rezepte für mehr Chancengerechtigkeit sind der Politik seit vielen Jahren bekannt“, sagt Bildungsökonomin Zierow. Sie kritisiert, dass das Thema Chancengerechtigkeit in Deutschland stiefmütterlich behandelt werde. „Solange das so bleibt, ist jede private Initiative wertvoll.“
Auch die Verantwortlichen der Berliner Quinoa-Schule wissen, dass sie mit ihrer Arbeit nur einen kleinen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit leisten können. Ab dem nächsten Schuljahr soll in der nordrhein-westfälischen Stadt Herne die zweite Quinoa-Schule Deutschlands eröffnen, um auch im Ruhrgebiet für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.
Titelbild: Jørn Tomter