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Olympische Spielchen

Tauziehen, Architektur, Dichten: Über die Jahrzehnte rutschten immer wieder skurrile Disziplinen ins olympische Programm

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Olympische Spielchen

Literatur

Wer mal einen Tausendseiter von Proust oder Ken Follett durchgeackert hat, weiß, dass Literatur durchaus auch Sport sein kann. Tatsächlich aber war Literatur mal olympisch, Pierre de Coubertin sei Dank. Den französischen Pädagogen und Historiker inspirierten Ausgrabungen im antiken Olympia auf der griechischen Halbinsel Peloponnes derart, dass er Ende des 19. Jahrhunderts die Olympischen Spiele wiederbeleben wollte. De Coubertin wurde Gründungsmitglied und Generalsekretär des Olympischen Komitees (IOC).

Manche seiner Ideen sind heute festes olympisches Programm, de Coubertin designte etwa die Ringe. Andere setzten sich nicht durch. So seine Forderung, Frauen von Olympiateilnahmen auszuschließen. Seine Idee, auch Kunstwettbewerbe abzuhalten, hielt sich immerhin bis 1948. Um seinem Ideal der Einheit von Körper und Geist nahezukommen, schlug de Coubertin musische Wettbewerbe vor. Zur Olympiade 1912 wurden die Disziplinen Literatur, Architektur, Musik, Malerei und Bildhauerei eingeführt. Die eingereichten Arbeiten, die dann von einer Jury begutachtet wurden, mussten lediglich einen Bezug zum Sport haben.

De Coubertin sah in den Olympischen Spielen eine Möglichkeit, nationale Egoismen zu überwinden. Persönliche Egoismen blieben vom olympischen Geist freilich unberührt: Als 1912 zu wenige Arbeiten eingereicht wurden, ging de Coubertin höchstselbst zu Werke. Unter dem Pseudonym „Georges Hohrod und Martin Eschbach“ reichte er die „Ode an den Sport“ ein. Das Gedicht beginnt mit „O Sport, du Göttergabe, du Lebenselixier“ und geht ungefähr genauso weiter. Was die Jury nicht davon abhielt, Hohrod und Eschbach die Goldmedaille zu verleihen – ohne zu wissen, dass sie damit den IOC-Präsidenten de Coubertin auszeichnete.

Kunst

Immerhin: Das Interesse an den Kunstwettbewerben stieg mit den Jahren und erreichte 1932 seinen Höhepunkt. Bei den Sommerspielen von Los Angeles sahen 384.000 Besucher knapp 1.100 Werke aus 31 Ländern. Die fünf Kunstdisziplinen de Coubertins wurden immer wieder variiert. So gab es zum Beispiel Medaillen für „Städtebauliche Entwürfe“ (1912–1932), „Medaillen und Plaketten“ (1928–1948), „Gebrauchsgraphik“ (1936) oder Chorgesang (1936).

Der erfolgreichste olympische Künstler ist Jean Jacoby. Der luxemburgische Maler gewann 1924 und 1928 Gold, 1932 und 1936 bekam Jacoby keine Medaillen mehr, aber jeweils „lobende Erwähnungen“ der Jury. (Insbesondere jene in Berlin 1936 war für den in Berlin lebenden Jacoby ein Schlag, über den er sich in Briefen ans IOC bitterlich beschwerte.)

Auch gab es Sportler, die zugleich als Künstler teilnahmen. Der US-Amerikaner Walter Winans gewann 1912 Silber als Sportschütze und Gold als Bildhauer, der Ungar Alfred Hajos gewann 28 Jahre nach seinen zwei Goldmedaillen als Schwimmer noch einmal Gold in Architektur, passenderweise für den Entwurf eines Schwimmstadions.

Dass künstlerische Disziplinen für ältere Olympioniken ganz neue Perspektiven boten, bewies auch John Copley. Bei den Londoner Spielen 1948 gewann Copley 73-jährig Silber in „Gravur und Kupferstecherei“. Damit ist der Brite der älteste Olympiamedaillengewinner aller Zeiten. 

1948 waren zugleich die Spiele, bei denen die Kunstwettbewerbe das letzte Mal ausgetragen wurden. Zum einen, weil die Künstler oft von ihrer Kunst lebten, also nach dem damals geltenden Amateurgebot nicht antreten durften. Zum anderen, weil die Spiele 1936 in Berlin stattgefunden hatten. Dort fielen die Kunstwettbewerbe in die Zuständigkeit des Propagandaministeriums unter Joseph Goebbels – das Olympia als ebendas verstand: Propaganda. In der Jury saßen überzeugte Nazis wie Hans Herbert Schweitzer, bekannt für seine antisemitischen Plakate und Karikaturen, oder Adolf Ziegler, der kurz darauf den Auftrag erhielt, „entartete“ Kunst (Werke, die nicht zur NS-Ideologie passten, Anm. d. Red.) im Land zu diffamieren und zu beschlagnahmen. Unzufrieden mit den Einreichungen deutscher Künstler, mussten auf Goebbels’ Geheiß regimetreue Künstler teilnehmen, die dann, Überraschung, 13 Medaillen für die Nazis gewannen.

Tauziehen

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war Tauziehen mehr als nur die Möglichkeit, sich im Schulsport von kräftigeren Mitschülern demütigen zu lassen: Es war olympisch. Zwischen 1900 und 1920 gehörte Tauziehen als Leichtathletikdisziplin fünfmal zum Programm der Olympischen Sommerspiele. Damals war es den Nationen sogar erlaubt, mehrere Teams zu nominieren, was dazu führte, dass 1904 drei US-Teams auf dem Treppchen standen und 1908 drei britische.

Die beiden Staaten dominierten den Sport dieser Tage – und sorgten 1908 für einen Eklat. Eines der britischen Teams trat gegen die USA mit schweren, mit Nägeln beschlagenen Stiefeln an. Die US-Amerikaner legten ob des wettbewerbsverzerrenden Schuhwerks Protest ein, die Briten, eine Polizeimannschaft aus Liverpool, hielten dagegen, es handele sich bei den Stiefeln um normale Polizeiausrüstung. Der Kampfrichter (auch ein Brite) lehnte den Protest ab, die Polizisten gewannen locker. Und wurden später Olympiasieger. 

Tonnenspringen, Sackhüpfen und Tabak-Weitspucken

Bei den Olympischen Spielen 1904 waren die Dinge ein bisschen unübersichtlich. Schon der Austragungsort St. Louis war umstritten, dazu fanden die Spiele – wie schon vier Jahre zuvor in Paris – als eine Art Anhängsel der Weltausstellung „Louisiana Purchase Exposition“ statt und zogen sich über Monate.

Pierre de Coubertin war bei der Organisation außen vor, dafür gab es ein eigenes Referat im Organisationskomitee der Weltausstellung: die „Abteilung P“. Sie sorgte dafür, dass Olympia zu einer besseren Westernshow verkam. Abteilung P hatte zunächst 300 Sportarten vorgeschlagen, letztlich wurden es 102. Welche dabei genau olympisch waren und welche nicht, war schwer zu sagen: Abteilung P verwendete das Label großzügig. So gab es 1904 „olympische“ Sternstunden wie die amerikanischen Grundschulmeisterschaften, die Wettbewerbe in Irish Sports (Hurling und Gaelic Football) und diverse Showveranstaltungen wie Tonnenspringen (eine Art Hindernislauf) oder Sackhüpfen.

Bis heute hält sich die Legende, es habe auf Betreiben eines Tabakwarengroßhändlers aus St. Louis auch ein Tabak-Weitspucken gegeben. (Das angeblich auch der Grund gewesen sein soll, warum Pierre de Coubertin den Spielen fernblieb.) Ob ein solcher Wettbewerb stattfand, ist umstritten. Offiziell als olympisch anerkannt wurden vom IOC im Nachgang nur 16 Sportarten.

Die „Anthropologischen Tage“

Ein Tabak-Weitspucken mag (wenn es denn stattgefunden hat) der hygienische Tiefpunkt der Spiele 1904 gewesen sein; der menschliche waren die „Anthropologischen Tage“. Die völkerkundliche Abteilung der Weltausstellung richtete zu ebendieser auch sogenannte Völkerschauen aus, in denen Angehörige indigener Völker vorgeführt wurden. An den „Anthropologischen Tagen“ mussten die Völker gegeneinander antreten, zur „Prüfung der alarmierenden Gerüchte über Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft der wilden Stämme“, wie es damals hieß.

So maßen sich Vertreter der Cherokee, Sioux, Patagonier, Pygmäen und anderer Völker in einem zutiefst rassistischen Event im Laufen, Weitwurf, Bogenschießen, Baumstammklettern, Schlammringen und anderen Pseudowettkämpfen. Die bescheidenen Ergebnisse der in den Disziplinen oft völlig ungeübten Teilnehmer wurden zum Beweis der Überlegenheit des „zivilisierten weißen Menschen“ herangezogen, die indigenen Teilnehmer seien „unterlegene Athleten“, hieß es in der Retrospektive. Der Sportchef der Olympiade, James E. Sullivan, spottete gar, „dass niemals zuvor in der Geschichte des Weltsports derart schlechte Leistungen“ gezeigt worden seien. Ein schäbiger Superlativ, mit denen man ja ohnehin sparsam umgehen sollte. Außer vielleicht in diesem Fall: Die „Anthropologischen Tage“ dürften eines der hässlichsten Kapitel der olympischen Geschichte sein.

Illustration: Renke Brandt

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