Thema – Identität

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Echt jetzt?

Ist das eigentlich das wirkliche Leben, was wir da so posten? Und wenn nein: was dann? Ein Gespräch mit Medienphilosoph Roberto Simanowski

Echt jetzt?

Soziale Medien machen mit unseren persönlichen Erlebnissen viel Geld und dienen unter anderem der Überwachung. Das alles weiß man. Warum machen wir trotzdem alle mit?

Weil die Vorteile für uns so offensichtlich sind, während uns die Fantasie für die möglichen Nachteile fehlt. Wir erleben den auf uns abgestimmten Service und sehen auch, dass dafür unsere Daten erfasst werden. Aber diese Daten erscheinen uns banal. Doch mit den richtigen Algorithmen kommen die Anbieter dadurch zu Einsichten in Dinge, die wir eigentlich nicht preisgeben wollen – von religiösen Überzeugungen bis zu sexuellen Vorlieben. 

Nehmen wir also die Überwachung als Fürsorge wahr?

Der Begriff „Überwachungskapitalismus“ zielt darauf, dass Überwachung heute als Service daherkommt. Die Social-Media-Plattformen überwachen uns nicht, um uns zu disziplinieren, sondern um unsere Wünsche perfekt zu erfüllen. Während sich in Ländern wie China die Unterdrückung durch Daten schon abzeichnet, werden solche Warnungen bei uns nicht ernst genommen. Dabei könnte man auch unsere Daten gegen uns verwenden. 

Übrigens: Auf bpb.de könnt ihr das Interview in voller Länge nachlesen.

Sensationsgier, Bequemlichkeit und Suche nach Selbstbestätigung – ist der Mensch womöglich selbst schuld?

Das Internet ist unser Feind, weil es so sehr unser Freund ist. Es bedient, was wir wollen: viel Spektakel und die willkommene Bestätigung unserer Überzeugungen. Filterblasen, in denen wir uns gegen andere Standpunkte abschotteten, existierten früher auch schon. Wir haben uns die Zeitungen gekauft, die uns politisch näherlagen. Aber da gab es noch eine Redaktion, die dafür sorgte, dass es nicht zu einseitig wird. Die Algorithmen haben diese Sorge nicht mehr. 

Aber bedienen die Sozialen Medien nicht auch positive Bedürfnisse: Zugehörigkeit zu Gruppen und Austausch mit anderen? 

Das ist unbestreitbar. Doch inzwischen ist klar, dass fast alle Vorteile auch ihre Kehrseite haben. Für Minderheiten ist es leicht, im Netz ihre Community zu finden. In auto­ritären Regimen können sich die Menschen mittels der ­Sozialen Medien sehr wirkungsvoll gegen die staatliche Unterdrückung organisieren. Andererseits stehen diese Möglichkeiten eben auch Extremisten offen, die die Demokratie schwächen wollen. Positiv ist grundsätzlich auch, dass hier jeder frei seine Meinung äußern kann. Aber die fehlende Kontrolle öffnet natürlich auch die Tore für Fake News und Verschwörungsmythen. 

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Instagram Celeste Barber
Die Australierin Celeste Barber setzt sich auf ihrem Instagram-Account ziemlich witzig mit der Selfiekultur auseinandersetzt: Sie stellt all die Posen nach, die Influencerinnen und Celebrities so einnehmen.

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Reality
Trotz ihrer übertriebenen Unbeholfenheit wirkt dabei nicht Celeste albern – sondern eher die anderen, die ihre Selbstverliebtheit immer wieder neu in Szene setzen.

Warum stellen die Menschen ihr Leben in den Sozialen Medien so bereitwillig zur Schau? 

Es heißt oft, der Grund sei Selbstverliebtheit. Die Leute wollten zeigen, was sie für ein tolles Leben führen. Ich glaube, das stimmt nur zum Teil. Meines Erachtens zeugen die digitalen Selbstdarstellungen von einer Unfähigkeit, das Leben wirklich zu erleben. Gerade an Urlaubsorten sieht man oft, dass die Leute ihre Fotos noch vor Ort posten. Sie sind gar nicht richtig anwesend, sondern sind schon halb in der digitalen Parallelwelt. Das ist faktisch eine Flucht aus dem Moment. 

„Wir delegieren unser Erleben an andere. Es ist paradox: Wir leben in einer Selfiezeit mit abnehmendem Bewusstsein über uns selbst“

Warum diese Flucht? 

Meine These ist: aus Überforderung. Dem modernen Menschen steht die ganze Welt offen, aber er leidet unter einer inneren Leere, sodass er mit all diesen Erlebnissen im Grunde gar nichts mehr anfangen kann. Im Pariser Louvre eilen die Leute von Gemälde zu Gemälde, machen vor der „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci ein Selfie, und dann geht es weiter. Man hat seine Funktion als Tourist erfüllt, und die anderen in den Sozialen Netzwerken bestärken einen: Toll, was du da gerade erlebst! Und wir bestätigen dann deren Erlebnisfotos. So delegiert man das eigentliche Erleben jeweils an die anderen, ohne dass man darüber nachdenkt, was man da eigentlich gerade erlebt. Es ist paradox: Wir leben in einer Selfiezeit mit abnehmendem Bewusstsein über uns selbst.

Was bedeutet das für die politische Meinungsbildung?

Wenn man sich immer weniger als bewusstes und auch widersprüchliches Individuum wahrnimmt, spürt man auch weniger inneren Widerstand gegen die Identifikationsangebote im Netz. Man ist eine leichte Beute für die Filterblasen, in denen dann eine Unfähigkeit entsteht, andere Sichtweisen wahrzunehmen und gegenteiligen Argumenten überhaupt zuzuhören. So kommt es immer öfter zu Hatespeech. Diese Zerstörung einer dialogischen Meinungsbildung ist natürlich gefährlich für das Selbstverständnis einer Demokratie.

Sie behaupten, kein Kulturpessimist zu sein. Was ist der Zweck Ihrer Kritik?

Zu verhindern, dass uns das als Gesellschaft noch öfter passiert – dass wir den Verlockungen neuer Technologien vorschnell auf den Leim gehen und dann merken: Oh, da ist ja was schiefgegangen! Lange hat man die Möglichkeiten der Teilhabe im Netz gelobt. In der Tat waren es zuerst überwiegend die fortschrittlichen Kräfte, die sich hier verbunden haben, wie man an der Demokratiebewegung des Arabischen Frühlings eindrucksvoll sehen konnte. Als dann aber demokratiefeindliche Kräfte verstärkt in die Sozialen Medien drangen – als etwa Donald Trump auch mithilfe von Facebook und Twitter, wie er selbst sagte, ins Weiße Haus einzog und als mit der Pandemie dann die Verschwörungsmythen ins Kraut schossen –, war es zu spät. Wir sollten vorher misstrauisch sein und genau nach den möglichen Folgen neuer Medien fragen. Das gilt auch für alle künftigen neuen Medien: Web3, Metaverse, künstliche Intelligenz.

„Zerschlagung bringt nichts. Es ergibt doch keinen Sinn, eine große Plattform durch 5.000 kleine zu ersetzen, auf denen man dann seine Freunde nicht mehr antrifft“

Wie tragen die Daten- und Geschäftsmodelle der großen Plattformen zu ihrer demokratiegefährdenden Wirkung bei?

Das Ziel der Sozialen Medien ist es, Werbekunden möglichst viel Kontaktzeit mit ihrer Zielgruppe zu verkaufen. Dazu müssen sie die Nutzer so lange wie möglich auf der Plattform halten – auch um immer noch mehr Daten für eine noch perfektere Personalisierung der Werbung zu sammeln. Dies gelingt am besten, wenn man die Erwartungen der Leute bedient oder sie mit Spektakulärem fesselt.

Warum hat die Politik dem lange recht tatenlos zugesehen?

Das Problem war auch eine Überalterung der Parteienelite. Die jüngeren Generationen, denen die neuen Medien schon vertrauter waren, saßen noch nicht in den Positionen, wo die Politik bestimmt wird. Grundsätzlich ist es auch nicht die Aufgabe des Staates, technologische Entwicklung zu behindern – man will ja der Wirtschaft keine Steine in den Weg legen. Wenn irgendwo eingegriffen werden soll, muss das sehr gut begründet werden. Dafür fehlten aber die Kompetenzen. Es war leichter, sich als innovationsfreudig zu zeigen und die Dinge laufen zu lassen.

Sind wir insgesamt als Gesellschaft zu sorglos, was die Digitalisierung betrifft? 

Der politische Tenor ist heute überwiegend: erst mal bedenkenlos drauflosdigitalisieren! Dabei ist längst klar, dass es lange Zeit eher zu wenig Bedenken gab. Technologischer Fortschritt bedeutet nicht automatisch auch gesellschaftlichen Fortschritt. Andererseits liegt pandemiebedingt durch Homeschooling, Homeoffice und Videokonferenzen natürlich auf der Hand, dass weiter digitalisiert werden muss. Dadurch ist es noch komplizierter geworden, einen skeptischen Standpunkt zu vertreten. Ich tue das trotzdem. Es ist ja wichtig, den Bildungsauftrag aufrechtzuerhalten.

Muss die Zivilgesellschaft einspringen?

Ja, kritische Bürgerinnen und Bürger sind für die wachsame Begleitung der technischen Entwicklung extrem wichtig. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Medienbildung, junge Menschen dazu noch mehr in die Lage zu versetzen. Doch bisher wird Medienbildung in Deutschland kurzfristig am Arbeitsmarkt ausgerichtet. Man will den Leuten vor allem vermitteln, wie sie die digitalen Medien erfolgreich nutzen. Es müsste aber viel mehr gefördert werden, kritisch über die neuen Technologien nachzudenken. Angesichts der millionenschweren Lobbyarbeit der IT-Giganten und der Entwicklungen auf dem Feld der künstlichen Intelligenz ist es gefährlich, diese tiefer­gehende, nachhaltige Medienkompetenz zu vernachlässigen.

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Zu Beginn des Internets gab es große Erwartungen, es würde zu einer umfassenden Demokratisierung der Welt führen. Wie könnte sich dieses Potenzial wieder mobilisieren lassen?

Viele setzen heute auf die Blockchain-Technologien. Es gibt die Hoffnung, dass die Menschen in einem dezentralisierten Web3 wieder an den großen Plattformen vorbei direkt miteinander kommunizieren können. Diese Hoffnung auf Demokratisierung durch Technik ist so blauäugig wie vor zehn Jahren die Hoffnung auf Facebook als ein Demokratisierungswerkzeug.

Halten Sie Forderungen, die Plattformen zu zerschlagen beziehungsweise zu verstaatlichen, für sinnvoll?

Eine Zerschlagung wird nichts bringen. Die Sozialen Netzwerke funktionieren gerade wegen ihrer Größe und Monopolstellung. Es ergibt keinen Sinn, die eine große Plattform durch 5.000 kleine zu ersetzen, wo man dann seine Freunde nicht mehr antrifft. Auch bezüglich einer Verstaatlichung stellen sich viele Fragen: Wie soll das mit diesen globalen Gebilden funktionieren? Wer ist danach der Eigentümer, die USA? Was passiert dann mit den Daten der deutschen Nutzer? Will man die Unmengen bereits generierter Daten wirklich in den Händen des Staates sehen? Ich meine: nein. Aber die Politik sollte die Plattformen definitiv stärker regulieren.

In welcher Form?

Zum Beispiel: Instagram sollte von WhatsApp und von Facebook getrennt werden. Man sollte es Meta viel konsequenter untersagen, seine Monopolstellung auszunutzen, und es zwingen, Algorithmen transparent zu machen. Wir reden hier von Netzwerken, die zunehmend die Art und Weise unserer Kommunikation prägen und die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Da hat der Staat eine Fürsorgepflicht. Alles, was zu einer Entkommerzialisierung unserer Kommunikation führt, ist schon mal gut. Die digitalen Plattformen sind ja nur deshalb frei zugänglich, damit wir uns Werbung anschauen. Selbst wenn ich mir zum Beispiel auf YouTube eine Dokumentation ansehen möchte, drängt sich Werbung hinein. Das untergräbt die Ernsthaftigkeit meines Unterwegsseins als politisch interessierter Mensch.

Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski hat u. a. das Buch „Facebook-Gesellschaft“ geschrieben und dichtung-digital.de gegründet, ein Onlinejournal für digitale Kunst und Kultur (Foto: Gunter Glücklich/laif)

Fotos: @celestebarber

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