Am 24. Februar weckten mich Nachrichten von meinen Verwandten: In Kiew höre man Schüsse. Meine Schwester Lera, ihre drei Töchter und ich waren zu der Zeit in Lwiw in der Westukraine, etwa 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Wir versuchten, nicht in Panik zu geraten, aber natürlich bangten wir um unsere Eltern. Sie hatten schon Wochen zuvor beschlossen, dass sie in ihrem Dorf bei Kiew bleiben, sollte Putin angreifen. Meine Oma ist schwer krank. Sie ist 85 Jahre alt, hört nur noch wenig, sitzt meistens mit geschlossenen Augen da. Eine Flucht würde sie nicht überleben.
Die Ukrainerin Nastya Podorozhnia, 25, ist Sexualaufklärerin und Redakteurin des Studierenden-Magazins „Doxa“. Es berichtet über politische Themen wie Repressionen gegen Studierende nach der Teilnahme an Protesten und den Krieg gegen die Ukraine. In Russland ist der Zugang zu dem Onlinemagazin mittlerweile gesperrt. Vier „Doxa“-Mitarbeitende stehen seit April 2021 unter Hausarrest.
Meine Mutter versuchte ihr zu erklären, was los war: „Putin hat uns angegriffen.“ Oma öffnete die Augen und sagte mit überraschender Klarheit: „Was ein Scheißkerl.“ Seitdem verbringen meine Eltern, die Familie meiner Tante, meine Oma und ihre Pflegerin den Großteil ihrer Zeit im Keller meines Elternhauses.
Meine Schwester Lera hatte sich für die Flucht entschieden und war schon drei Tage zuvor mit den Kindern von Kiew nach Lwiw gefahren. Sie hatte ihnen gesagt, es sei Urlaub. Die sechsjährigen Zwillinge hatten es geglaubt, aber die Zehnjährige ahnte, dass etwas nicht stimmt. Ich war aus Krakau, wo ich seit meinem Masterstudium lebe, nach Lwiw angereist. Ich wollte bei ihr sein, falls ihre Familie aus der Ukraine fliehen muss.
Den ersten Tag des Krieges verbrachten wir zwischen unserem Hotelzimmer und einem Bunker. Jura – der Mann meiner Schwester, der in Kiew zurückgeblieben war – lud nützliche und sentimentale Sachen ins Auto: Fotos, Kleidung, Leras Lieblingstasse. Dann machte er sich auf den Weg zu uns. Während er unterwegs war, wurde beschlossen: Männer zwischen 18 und 60 dürfen nicht mehr das Land verlassen. Ohne ihn wollte Lera nicht nach Polen. Wir alle waren ratlos und verzweifelt.
„Lera saß am Steuer, ich las am Smartphone Telegram-Kanäle, um herauszufinden, wo die Kämpfe sind“
Am nächsten Abend fuhren wir trotzdem los, um es an der Grenze zu Ungarn zu versuchen. Wir teilten uns auf zwei Autos auf. Jura mit den Kindern, ich mit Lera. Sie am Steuer, ich las am Smartphone Telegram-Kanäle, um herauszufinden, wo die Kämpfe sind. Zuerst fuhren wir nach Mukatschewo in Transkarpatien, der westlichsten Region der Ukraine. Den direkten Weg nach Krakau aus Lwiw wollten wir nicht mehr nehmen. Wir hatten von langen Schlangen an den dortigen Grenzübergängen gehört.
Die nächsten vier Tage verbrachten wir im Nebel der Angst und Erschöpfung. Schon beim Losfahren waren wir bereits fast 40 Stunden wach gewesen. Die ganze Nacht zuvor hatten wir Nachrichten gelesen und eine möglichst sichere Strecke diskutiert. Jetzt mussten wir eine zweite Nacht am Steuer durchmachen. Laut Google Maps dauert der Weg von Lwiw nach Mukatschewo etwa vier Stunden. Wir brauchten neun, weil wir Ortschaften umfahren mussten, die uns zu gefährlich erschienen. Zum Glück nahmen uns Freundesfreunde in Mukatschewo auf, sodass wir etwas schlafen konnten. Außerdem wurde, als wir unterwegs waren, eine Gesetzesergänzung verkündet: Männer mit mindestens drei minderjährigen Kindern dürfen die Ukraine verlassen. Jura durfte also doch raus!
Über Umwege am Grenzübergang zu Polen angekommen, mussten wir 18 Stunden warten. Die Mädchen weinten. Es gab nirgendwo eine Toilette. Als wir endlich über die Grenze fuhren, kamen mir die vier Tage mit Schlafentzug und schlimmen Nachrichten wie Folter vor.
Die Familie meiner Schwester und ich sind jetzt in Krakau. Eine Kollegin von mir hat sie kostenlos in einer Wohnung untergebracht. Wir fühlen uns in Sicherheit, sorgen uns aber sehr um unsere Verwandten in Kiew. Sie schlafen immer noch im Keller, essen die Lebensmittel, die sie im vergangenen Sommer eingelegt haben. Statt Sirenen läuten in dem Dorf die Kirchenglocken.
Die Gesundheit meiner Oma hat sich verschlechtert. Und es scheinen Erinnerungen zurückgekommen zu sein. Sie sagt jetzt oft: „Ihr versteht nicht, was für ein Horror Krieg ist.“ Als sie noch ein kleines Mädchen war, marschierten Nazis in ihr belarussisches Dorf Bykovo ein. Früher, als sie noch fitter war, erzählte meine Oma mir oft diese Geschichte: Die Nazis hatten die ganze Dorfbevölkerung aufgereiht, um sie zu erschießen. Meine Uroma stellte meine Oma in die erste Reihe, damit sie schnell stirbt und sich nicht quält. Eine Deutsche, die in dem Dorf wohnte, konnte die Nazis aber im letzten Moment überreden, die Menschen leben zu lassen. Ob die Geschichte stimmt, werde ich wohl nie überprüfen können. Sicher ist, dass der Krieg bei meiner Oma tief festsitzt. In einer Nacht im Keller stand sie plötzlich auf. „Wohin willst du?“, fragten meine Eltern. „Im Schrank verstecken“, sagte sie. Ich denke, das sind Kindheitserinnerungen. Es ist so traurig, dass ihr Leben mit einem Krieg begonnen hat und vielleicht in einem Krieg zu Ende geht.
Fotos: privat