Der Bezirk San Andrés Totoltepec ist etwa eine halbe Autostunde von der Innenstadt Mexiko-Stadts entfernt. Hier lebt Maria Remedios gemeinsam mit ihrem Mann, ihren drei erwachsenen Kindern, der Ehefrau ihres Sohnes und ihrem Enkelkind. Das zweistöckige Haus der Familie ist ein Rohbau aus grauen Ziegeln, in das zwar Fenster eingesetzt wurden, das aber wie alle umliegenden Häuser der Gegend nicht an das Wassernetzwerk der Stadt angeschlossen ist.
Während sich die Innenstadt der mexikanischen Hauptstadt auf bereits mehr als 2.000 Metern Höhe befindet, liegt das ländlich wirkende Viertel, in dem die Familie lebt, noch höher und erstreckt sich über einen Berg. Vom Haus der Familie hat man einen guten Blick auf die Innenstadt und die vom Smog umhüllten Hochhäuser. „Dort unten waschen die Menschen ihre Autos und die Gehwege vor ihren Wohnungen mit Wasser aus der Leitung, während wir hier nicht mal einen Zugang zu Wasser haben“, sagt Maria. Der Wasserverbrauch pro Kopf in Mexikos Hauptstadt lag 2018 mit ungefähr 300 Litern pro Tag doppelt so hoch wie in Deutschland.
Mexiko kämpft schon seit Jahren mit einem immer größer werdenden Wasserproblem. Bis zu 15 Millionen Menschen im Land haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Eine Tatsache, die die ohnehin schon starke soziale Ungleichheit noch verstärkt. In der Hauptstadt mit ihren knapp 22 Millionen Einwohner:innen zeigt sich das Problem am deutlichsten: Während die einen das Wasser nur so verschwenden, bleiben rund 1,3 Millionen Menschen in der Megacity ganz ohne Wasseranschluss. Selbst in vielen Haushalten, die ans reguläre Wassernetz angeschlossen sind, fließt das Wasser an manchen Tagen nicht – oder es kommt nur braune Flüssigkeit aus dem Hahn. Das Wasser ungefiltert zu trinken ist oft gefährlich. Viele Millionen Mexikaner:innen sind bereits von den Folgen der schlechten Wasserqualität betroffen. Das Wasser enthält oft unter anderem Fluorid und Arsen. Eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass mehr als drei Millionen Mexikaner:innen Wasser mit einem zu hohen Fluorid- und weitere 8,8 Millionen Menschen Wasser mit einem zu hohen Arsengehalt ausgesetzt sind. Der Konsum dieses Wassers kann Wachstumsstörungen oder Knochendeformationen verursachen und zu Krebs führen.
Das Leitungssystem ist so marode, dass 40 Prozent des Wassers versickern
„Ich bin ständig nervös; jeden Tag mache ich mir Gedanken darüber, wie wir an sauberes Wasser kommen“, sagt Maria. In dem Viertel, in dem sie schon seit ihrer Geburt lebt, gibt es keine Wasserleitungen, ihre Familie ist deshalb auf staatliche Wasserlieferungen angewiesen. Meistens einmal am Tag – manchmal aber auch mitten in der Nacht, manchmal ohne Ankündigung drei Tage hintereinander gar nicht – fährt ein Wagen mit einem großen Wassertank vor und befüllt Wasserkanister in der Nachbarschaft.
Expert:innen warnen bereits seit Jahren, dass es unmöglich sei, eine Stadt dieser Größenordnung dauerhaft und umweltverträglich mit Wasser zu versorgen. Da die Hauptstadt auf einer Hochebene fernab von Gewässern liegt, werden täglich Millionen Liter Wasser zum Teil über Distanzen von mehr als 100 Kilometern in die Stadt geleitet oder aus den Grundwasserspeichern unter der Stadt gepumpt. Unter anderem deshalb ist Mexiko-Stadt in den letzten 100 Jahren um mehr als zehn Meter abgesackt. Das Leitungssystem ist so marode, dass Schätzungen zufolge 40 Prozent des Wassers gleich wieder versickern. Weniger als 15 Prozent des Abwassers werden wieder in den Wasserkreislauf zurückgeführt.
Da die erwachsenen Mitglieder von Marias Familie unter der Woche arbeiten gehen, stellt sich Maria meistens alleine in die Warteschlange und trägt nacheinander bis zu zehn 20-Liter-Kanister Wasser ins Haus – entweder einen steilen Berg hinauf oder hinunter, je nachdem, wo die Wasserlieferung ankommt. „Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich keine schweren Sachen tragen soll“, sagt Maria. Der Hausfrau wurde erst vor einem Jahr ein Tumor entfernt. „Ich mache es trotzdem“, sagt sie. Schließlich braucht die Familie Wasser.
200 Liter am Tag stehen der Familie so zur Verfügung, also 28,5 Liter pro Person und damit nicht einmal ein Zehntel des Pro-Kopf-Verbrauchs der Stadt – und umgerechnet etwa drei Toilettenspülungen in Deutschland.
Eine ganze Branche vertreibt trinkbares Wasser aus Tankwagen
Da es für die staatlichen Wasserlieferungen eine lange Warteliste gibt, sind viele Einwohner:innen zusätzlich auf private Unternehmen angewiesen, die Wasser teuer verkaufen. In Mexiko-Stadt hat sich eine ganze Branche entwickelt, die in den Vierteln der Megacity trinkbares Wasser aus dem Tankwagen vertreibt. Diese Unternehmen nutzen die Not der Menschen und schlagen daraus Profit. Weil auch Maria und ihre Familie sich nicht immer auf die staatlichen Lieferungen verlassen können, sparen sie Wasser, wann immer es geht. In dem kleinen Vorgarten vor dem Haus stehen zusätzlich zahlreiche Eimer: „Die benutze ich, um Regenwasser aufzufangen, und sammele darin das Wasser aus der Waschmaschine.“ Maria und ihr Ehemann duschen nur alle drei Tage, damit der Rest der Familie sich jeden Morgen waschen kann. Das Wasser aus der Waschmaschine nutze Maria, um den Boden zu putzen. „Das haben wir früher auch immer mit dem Wasser gemacht, mit dem wir unsere Töpfe und Teller gewaschen haben“, sagt Maria. „Aber das machen wir mittlerweile nur noch, wenn das Wasser nicht zu schmutzig ist.“
Mögliche Lösungsansätze sind bekannt: etwa der Bau von Kläranlagen, die Reparatur der Leitungen oder höhere Wasserpreise, um der verschwenderischen Nutzung mancher Mexikaner:innen entgegenzutreten, bei denen das Wasser wie selbstverständlich aus der Leitung fließt. Politik und Verwaltung streiten sich aber seit Jahren über Privatisierung und scheuen große Investitionen, die es so dringend bräuchte. Umweltschützer:innen und Wissenschaftler:innen kritisieren den Umgang der Politik mit dem Problem als unzureichend.
So haben sich mittlerweile Hilfsorganisationen gebildet, um dem Problem entgegenzutreten. Isla Urbana etwa, die ein nachhaltiges System zur Gewinnung von Wasser entwickelt hat. Dazu installiert die NGO große Wassertanks, in denen Regenwasser gesammelt, gefiltert und für den privaten Gebrauch nutzbar gemacht wird – Wasser, das sonst im Abwasserkanal landen würde. „In Mexiko leben so viele Menschen ohne Zugang zu Wasser, und gleichzeitig haben wir während der Regenzeit einen Überschuss an Wasser, der für Überschwemmungen sorgt“, sagt Sol García. Sie arbeitet seit sieben Jahren für die Hilfsorganisation: „Regenwasser ist eine wirklich wichtige und vitale Ressource.“
Die Systeme von Isla Urbana seien im Vergleich dazu, was viele mexikanische Familien sonst für Wasser zahlen, nicht teuer, sagt García. Familien in ärmeren Teilen des Landes zahlten außerdem nichts für die Systeme; die NGO finanziere diese Projekte auf andere Weise, beispielsweise durch Spenden. Mittlerweile profitieren bereits 22.000 Mexikaner:innen von einem Wassersystem der NGO.
Vor etwa einem Jahr wurde auch bei Maria und ihrer Familie ein Regenwassersystem von Isla Urbana installiert. Seitdem steht ein riesiger Tank im Garten der Familie, in dem Regenwasser gesammelt wird. Das erleichtert ihr Leben, sagt Maria: „Wir sind für mindestens fünf Monate im Jahr weniger auf die unzuverlässigen staatlichen Wasserlieferungen angewiesen.“