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Krankes System

Der Anteil derer, die Krebs überleben, ist in Armenien nicht mal halb so hoch wie in Deutschland. Viele Menschen fliehen für eine Behandlung ins Ausland

Armenien

Armen Kharatjan war überzeugt, dass seine Heimat alles bietet, was er zum Leben braucht. Familie, Freunde, ein Zuhause und sogar einen Job mit überdurchschnittlichem Einkommen. Diese Überzeugung kippte plötzlich, an einem Tag im November 2015. Sein zehnjähriger Sohn Narek klagte seit einigen Tagen über Bauchschmerzen, er fühlte sich schwach.

Die Kharatjans fuhren zu einer Untersuchung ins Krankenhaus in Jerewan. Die Diagnose traf sie ins Mark. Fortgeschrittener Gehirntumor, vier Arten Metastasen, die Ärzte gaben Narek zwei Monate, maximal. Sie setzten ihm einen Shunt, eine Art Ventil, das den Druck im Schädel mindert. Mehr könne man nicht für ihn tun, sagten sie. Zumindest nicht hier, in Armenien.

„Für uns gab es null Unterstützung vom Staat. Sie lassen einen sterben“

In seiner Verzweiflung spricht Kharatjan mit Freunden, Verwandten, Bekannten. Es kann doch nicht sein, dass sein einziger Sohn sterben muss. Eine befreundete Ärztin, die in Deutschland lebt, rät ihm, Narek im Ausland behandeln zu lassen. Frankreich, Israel, am besten aber Deutschland, sagt sie. Kharatjan erkundigt sich, ob der Staat eine Behandlung im Ausland finanziell unterstützt. Niemand konnte ihm etwas Genaues sagen. Also kümmert er sich selbst um Visa, verkauft seine Wohnung in Jerewan, leiht sich Geld von Bekannten und fliegt mit Narek nach Köln.

Wenn Kharatjan davon erzählt, hört man den Ärger in seiner Stimme, die sonst leise ist und weich. Die Falten zwischen seinen Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Für uns gab es null Unterstützung vom Staat“, sagt er bei einem Treffen im November 2021. „Sie lassen einen einfach sterben.“ Für das Interview hat Kharatjan, 46, ein kleiner, freundlicher Mann in Strickjacke und Kappe, ein italienisches Café in der schicksten Einkaufsstraße von Jerewan ausgesucht. Ganz als wolle er den Eindruck vermeiden, er sei arm, nur weil er all sein Geld für die Behandlung seines Sohns ausgegeben hat.

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Armen Kharatjan
Armen Kharatjan ließ seinen Sohn in Deutschland behandeln – und trieb Zehntausende Euro Behandlungskosten selbst auf

Das heutige Armenien ist ein vergleichsweise junges Land. Im September 1991 erklärte es seine Unabhängigkeit von der zerfallenden Sowjetunion. Die neue Regierung orientierte sich an der westlichen Marktwirtschaft und verabschiedete das zentralisierte sowjetische Gesundheitssystem, in dem der Staat alle Kosten trug. Künftig sollten vor allem private Kliniken und Ärzte die Versorgung sichern. Seitdem steigen die privaten Ausgaben für Gesundheit. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kamen 2019 auf jeden Einwohner Armeniens im Schnitt 524 US-Dollar Gesundheitsausgaben. Fast 85 Prozent davon zahlten die Armenier selbst, der Staat übernahm nur 12,4 Prozent. In Deutschland war das Verhältnis fast umgekehrt (12,8 zu 77,7 Prozent). Die WHO empfiehlt einen Anteil von maximal 20 Prozent – um zu verhindern, was man in Armenien beobachten kann: Nicht alle können sich nötige Behandlungen und Medikamente leisten.

Krebs ist die zweithäufigste Todesursache in Armenien. Der Anteil derer, die Krebserkrankungen überleben, ist laut Krebsatlas der American Cancer Society nicht mal halb so so hoch wie in Deutschland. Für Operationen gibt es in weiten Teilen des Landes zu wenig ausgebildete Chirurgen, die Wartelisten für Chemo- und Radiotherapien sind lang, Behandlungen fast ausschließlich in der Hauptstadt Jerewan möglich. So fliehen immer mehr Armenier, die bisweilen zuvor nie einen Fuß aus ihrem Dorf gesetzt haben, für eine Behandlung ins Ausland. Nach Angaben des armenischen Migrationsdienstes gehen die meisten nach Deutschland und Frankreich.

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Krebsstation
Gute Besserung! Die staatliche Krebsstationen in Gyumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens, soll geschlossen werden

Armen Kharatjan ist froh, dass er damals entschieden hat, seinen Sohn im Ausland behandeln zu lassen. Die Operation in Deutschland hat Narek das Leben gerettet. Gleichzeitig begann für Kharatjan ein zweijähriger Wettlauf gegen die Zeit, 250.000 Euro habe er für weitere Operationen, Chemo- und Radiotherapien auftreiben müssen. Mehrmals habe die Behandlung kurz vor dem Abbruch gestanden, erzählt Kharatjan. Wie durch ein Wunder schaffte er es immer wieder, die Beträge aufzubringen, auch durch Spenden von seinem Arbeitgeber, Stiftungen und von der armenischen Community im Ausland.

Auf seinem Handy zeigt Kharatjan Fotos aus Deutschland. Narek abgemagert und mit kahlem Schädel auf einem Krankenbett. Narek im Rollstuhl vor dem Kölner Dom. Narek und er in Deutschlandtrikots. Narek vor der Schwebebahn in Wuppertal. Zeitweise konnte Narek weder sprechen noch laufen. Kharatjan lächelt und streicht sich über die Glatze. „Die Zeit in Deutschland war mit unglaublich vielen Schwierigkeiten verbunden“, sagt Kharatjan. „Aber sie hat mir auch viel gegeben. Ich habe so viel Zuspruch und Wärme erfahren.“ Deutschland sei für ihn eine Art zweite Heimat geworden. Noch immer schauen er und sein Sohn jedes Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft.

40.000 Euro
kostet die Reha, die Narek bräuchte, im Monat

Seit 2017 sind sie zurück in Armenien. Glücklicherweise hat Kharatjan eine zweite Wohnung von seiner Familie geerbt. Dort, am Stadtrand von Jerewan, wohnen sie jetzt. Narek ist inzwischen 16. Er geht zur Schule, führt ein eigenständiges Leben.

Trotzdem bleiben – neben Corona – Risiken. Die armenischen Ärzte wüssten nicht, welche Medikamente Narek braucht, sagt Kharatjan. Manche Mittel seien im Land nicht zu bekommen. Und für eine Reha, die Narek vollständig heilen kann, müssten sie wieder nach Deutschland. An sich kein Problem, sagt Kharatjan. Nur könne sich die Familie die monatlichen Behandlungskosten von 40.000 Euro nicht leisten.

366 Euro
verdienten Armenier 2021 durchschnittlich im Monat

Der durchschnittliche Monatslohn lag 2021 bei 366 Euro, jeder Vierte hier lebt unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Anders als Kharatjan und Narek reisen manche daher ohne Visum nach Deutschland und beantragen Asyl, um nicht für die Behandlung zahlen zu müssen.

Armenien ist kein „sicherer Herkunftsstaat“. Trotzdem werden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nur knapp fünf Prozent der Asylanträge von Armeniern grundsätzlich positiv beschieden. In Ausnahmefällen, etwa bei akuter Lebensgefahr, wird ihnen „subsidiärer Schutz“ gewährt, der mindestens ein Jahr Aufenthaltserlaubnis bedeutet, die verlängert werden kann.

Eine solche akute Gefahr für die Gesundheit, schreibt das Bundesamt auf Nachfrage, liege vor, „wenn lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen sich durch eine Rückführung wesentlich verschlimmern würden“. Eine schlechtere medizinische Versorgung im Heimatland hingegen rechtfertige noch keine Ausnahmefälle. „Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.“

Asyl oder den Flüchtlingsstatus erhalten also nur die wenigsten. Viele Armenier kommen trotzdem. Sie spekulieren auf eine Behandlung in der Zeit, in der über ihren Asylantrag entschieden wird. Die Verfahren dauern oft Monate, in denen man laut Asylbewerberleistungsgesetz bei akuten Erkrankungen und Schmerzen Anspruch auf Behandlung hat. „Asylmissbrauch“ nennt Armen Ghazarjan das.

Der hagere Mann mit dunklen Locken und grauem Anzug hat sich schon als Doktorand mit dem Thema Migration in Armenien beschäftigt. Eine Zeit arbeitete er als Journalist für die armenische Presseagentur, nach der Revolution 2018 entschied er, einen Regierungsposten anzunehmen. Seitdem leitet der 31-Jährige den armenischen Migrationsdienst. „Wir versuchen, unseren Landsleuten zu erklären, dass das Asylsystem kein System für medizinische Behandlung ist“, sagt er. „Nicht alle verstehen das.“

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Armen Ghazaryan
Der Migrationsdienst um Direktor Armen Ghazarjan investiert seit Jahren in zurückkehrende Armenier: Hilfe bei der Jobsuche, Subventionierung von Wohnraum oder Versicherungskosten. Diese Unterstützung bleibe aber „ein schwieriges Thema“, sagt Ghazarjan. „Migration ist eine Wahl, kein Recht.“

Die deutschen Behörden hätten die armenische Regierung schon vor Jahren auf das Thema aufmerksam gemacht, sagt Ghazarjan. Seitdem gebe es eine engere Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsministerien beider Staaten, unter anderem bei Diagnosen oder bei der Ausbildung von Ärzten. Daneben habe Armenien verschiedene Ansätze verfolgt, um Menschen von der Ausreise abzuhalten, erklärt Ghazarjan. Seit drei Jahren zahlt die staatliche Versicherung die Operation bösartiger Tumore und die Strahlentherapie. Das deckt jedoch nicht die gesamten Behandlungskosten ab. So stehen Krebspatienten maximal 750 Euro im Jahr für chemotherapeutische Behandlungen zur Verfügung, in der Regel eher die Hälfte. 

Das Gesundheitssystem braucht Reformen

Trotzdem scheinen die Reformen Wirkung zu zeigen. Zuletzt sind die Asylanträge von Armeniern in Deutschland zurückgegangen. 2021 waren es laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gut 600 – halb so viele wie 2019. „Beruhigend“, findet Ghazarjan. Trotzdem weiß auch er, dass das armenische Gesundheitssystem Reformen benötigt, damit sich mehr Menschen im Inland behandeln lassen. Er glaubt, das Problem werde oft missverstanden: „Die Frage ist nicht, ob etwas in Armenien behandelbar ist. Das ist es in der Regel. Die Frage ist, ob die Behandlung verfügbar ist.“

Was das bedeutet, sieht man in Gyumri. Die zweitgrößte Stadt des Landes liegt nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Am Stadtrand, wo zwischen Brachland und Schotterwegen neue Wohnblöcke entstehen, steht die regionale Krebsstation. Sie soll geschlossen werden. Die Ausstattung ist veraltet. Die meisten Krankenzimmer sind schon leer, der Linoleumboden löst sich, auf den Fluren steht Wasser unter den Heizkörpern. Schwer vorstellbar, dass hier immer noch Patienten behandelt werden.

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Krebsstation in Gyumri
Das Bestrahlungsgerät in Gyumri ist defekt. Für eine Reparatur fehlt dem regionalen Krankenhaus das Geld. Radiotherapien können bald nur noch in der Hauptstadt Jerewan durchgeführt werden

Aber die Menschen in Gyumri und Umgebung wehren sich gegen die Schließung „Für die Menschen hier ist das eine Katastrophe“, sagt eine Krankenschwester, die seit 54 Jahren auf der Station arbeitet. „Jedes Jahr schreiben wir an den Gesundheitsminister. Aber nichts passiert.“

Sie sagt, die meisten Patienten kämen aus umliegenden Dörfern. Sie könnten sich regelmäßige Fahrten in die Hauptstadt gar nicht leisten. Außerdem seien die Wartelisten in Jerewan lang, und die Ärzte würden sich weniger Zeit nehmen als hier. Dass die Station schließt, könne dazu führen, dass sich mehr Menschen gegen eine Behandlung entscheiden.

Das medizinische Personal geht ins Ausland, um zu lernen, – und bleibt, um zu verdienen

Armen Isahakjan versucht zu beschwichtigen. Er leitet das städtische Klinikum im Stadtzentrum von Gyumri. „Die Schließung der Station war nicht zu vermeiden“, sagt Isahakjan. Das Gebäude sei nicht renovierbar, die Ausstattung zu alt. „Alles andere wäre Quatsch.“ Er ist um gute Stimmung bemüht. Isahakjans Bürotür steht offen, zum Interview gibt es frische Früchte, Konfekt aus Moskau und Kaffee aus Jerewan.

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Armen Isahakyan
Armen Isahakjan, Leiter des städtischen Klinikums von Gyumri

Sein Krankenhaus wurde vor zehn Jahren mit Mitteln der Weltbank gebaut. Es ist eines der neusten im ganzen Land. Stolz präsentiert Isahakjan die Engelsstatue, die seit kurzem den Eingang des Gebäudes ziert. Seine Tochter stand Modell. Auf der onkologischen Station, bald die einzige in der Region, zeigt er die Geräte. „Bosch, Siemens“, sagt er abwechselnd. „Qualität aus Deutschland.“ 60 Patienten machen hier aktuell eine Chemotherapie. Krebsdiagnostik und Operationen seien ebenfalls möglich, erklärt Isahakjan, zumindest theoretisch: Es fehlt an ausgebildetem Personal. Viele Unausgebildete gingen zum Studieren ins Ausland und blieben, viele Ausgebildete gingen ins Ausland, weil sie dort mehr verdienen. Für dringende Eingriffe müssen die Patienten also weiter nach Jerewan.

Isahakjan bestätigt, dass gerade Menschen, die einen schwierigen Eingriff brauchen, ins Ausland reisen. „Damit das nicht mehr passiert, brauchen wir eine bessere medizinische Ausstattung in den Regionen, mehr ausgebildete Spezialisten und einen Ärzterat, der bei schwierigen Entscheidungen hinzugezogen werden kann.“

„Ich wünsche mir, dass Armenien in 20 Jahren ein halb so gutes Gesundheitssystem hat wie Deutschland“

Das armenische Gesundheitssystem hat zuletzt Schritte nach vorn gemacht, darin sind sich Experten einig. Seit 2019 übernimmt die staatliche Krankenversicherung die Kosten für Tumoroperationen und Radiotherapien, es gibt mehr Geld für die medizinische Infrastruktur abseits der Städte. Krebsbehandlungen aber bleiben eine riesige Herausforderung für das Land im Südkaukasus, das so groß ist wie Brandenburg. Das liegt daran, dass sich die Regierung zu wenig um das Gesundheitssystem kümmert. Aber auch an Konflikten mit den Nachbarländern, die seit Jahren andauern: Russland will weitere Annäherungen zwischen Armenien und der EU verhindern. Die Beziehung zur Türkei soll nach dem Völkermord an den Armeniern normalisiert werden, noch sind die Grenzen aber geschlossen. Auch der Konflikt um Bergkarabach mit Aserbaidschan belastet das System. 

Armen Kharatjan, dessen Sohn Narek dank der Operation in Deutschland überlebt hat, hat selbst gekämpft. Bei den Gefechten in Bergkarabach hat er sich am Auge verletzt. Die Behandlung in Armenien hat bisher zu keiner Besserung geführt. Kharatjan überlegt schon länger, in Deutschland Asyl zu beantragen. Narek und er sollen endlich die medizinische Versorgung bekommen, die sie brauchen. Aber Kharatjans Stolz hält ihn ab: Er will nicht, dass andere seine Kosten tragen, in ihm einen Schmarotzer sehen könnten. Kharatjan hat sich stattdessen entschieden, Deutschland etwas zurückzugeben. Seit ein paar Monaten spendet er die umgerechnet etwa 40 Euro, die ihm der armenische Staat für Nareks Pflege zahlt, an die Opfer der Flutkatastrophe im Ahrtal. Er sagt: „Ich wünsche mir, dass Armenien in 20 Jahren ein halb so gutes  Gesundheitssystem hat wie Deutschland.“

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