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„Es ist eine feministische Revolution“

Seit Monaten gehen im Iran Menschen auf die Straße und riskieren dabei ihr Leben. Was ist an diesen Protesten anders als an denen zuvor? Und können sie erfolgreich sein? Fragen an den Soziologen Nader Talebi

Iran, Proteste

fluter.de: Es ist knapp vier Monate her, dass die Kurdin Jina Mahsa Amini im iranischen Polizeigewahrsam starb und sich im Iran Proteste entfachten. Es scheint als würde immer weniger darüber berichtet. Haben wir die Menschen im Iran vergessen?

Nader Talebi: Es passieren gerade so viele Katastrophen, so viel Leid und Schmerz auf der Welt. Es ist schwer, mit allem Schritt zu halten – auch für die Medien. Trotzdem ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Proteste im Iran noch nicht vorbei sind. Die Demonstrationen auf den Straßen sind zwar weniger geworden. Gleichzeitig bleibt das Gefühl, dass die Situation nicht normal ist. Jede kleine Unzufriedenheit hat jetzt das Potenzial, zu einer Performance des Widerstands gegen den Staat zu werden – dem es zunehmend schwerfällt, die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Um diese Ordnung aufrechtzuerhalten, schreckt das Regime auch vor Hinrichtungen nicht zurück: Mindestens 17 Protestierende wurden bereits zum Tode verurteilt, vier Urteile wurden schon vollstreckt. Welche strategische Bedeutung haben diese Prozesse für das Regime?

Die Hinrichtungen scheinen nicht dem Zweck zu dienen, Angst unter den Demonstranten zu verbreiten – trotzdem haben natürlich viele Angst. Aber dem Regime geht es in erster Linie darum, die Panik unter den Anhängern des Regimes zu bekämpfen. Denn diese unterstützen immer weniger die Praktiken des Regimes. Sie lehnen zunehmend sowohl die physische Gewalt als auch Demonstrationen zugunsten des Staates ab. Ich glaube aber nicht, dass dieser Plan funktioniert: Die Krise des Irans ist grundlegender und hängt mit der Korruption und Ungerechtigkeit des Staates zusammen. Und diese Krise nehmen nicht nur die Protestierenden wahr.

So funktioniert das politische System im Iran: Seit der Revolution 1979 bezeichnet sich Iran als Islamische Republik. Offizielles Staatsoberhaupt mit unbegrenzter Amtszeit ist Ali Chamenei, der sowohl politischer als auch geistlicher Führer des Landes ist. Chamenei trägt den Beinamen „Ajatollah“ (Zeichen Gottes). Er regiert das Land autoritär, hat den Oberbefehl über die Streitkräfte, ernennt den obersten Richter und den sogenannten Wächterrat. Alle vier Jahre können die Iraner:innen Parlament und Regierungschef wählen. Die Wahlen gelten jedoch als unfrei. Alle Kandidaturen für das Parlament werden vom Wächterrat im Vorfeld der Wahl überprüft und unpassende Kandidierende aussortiert: Internationale Wahlbeobachtungsmissionen werden bei Wahlen in Iran nicht zugelassen. Auf dem Demokratieindex des „Economist“ stand Iran 2021 auf Platz 152 von 167.

Seit 2021 steht Ebrahim Raisolsadati dem Kabinett vor. Berichten zufolge hat das Gremium mehr als 90 der 290 Parlamentarier:innen nicht zur Wiederwahl zugelassen. Im Parlament dürfen nur Gesetze erlassen werden, die mit dem islamischen Recht, der Scharia, vereinbar sind. Das wiederum wird ebenfalls vom Wächterrat kontrolliert. Zwischen Parlament und Wächterrat vermittelt der Schlichtungsrat (wie der Wächterrat selbst ebenfalls von Chamenei ernannt). Alle acht Jahre wählen die Iraner:innen einen Expertenrat, der aus Geistlichen besteht und den „Revolutionsführer“ theoretisch überwachen soll. Tatsächlich sind die Einflussmöglichkeiten des Expertenrats begrenzt.

Auch auf den Straßen gehen die iranischen Sicherheitskräfte immer brutaler gegen die Protestierenden vor. Welchen Einfluss hat das auf die Proteste?

Vor allem seit den Todesurteilen und Hinrichtungen finden weniger Massenproteste statt. Doch gerade junge Menschen sind kreativ geworden, um ihre Wut auszudrücken. Sie schütten rote Farbe in Brunnen, um an getötete Demonstrierende zu erinnern. Frauen schneiden sich die Haare ab, laufen ohne Hidschab herum oder schlagen Mullahs die Turbane vom Kopf. Diese performativen Protestformen sind Hauptmerkmale der Revolution.

Ist es eine Revolution? Manche würden das bestreiten.

Für mich ist es eine Revolution, denn sie fordert eine grundlegende Änderung der derzeit vorherrschenden Machtverhältnisse. Für die Demonstrierenden steht die Idee einer besseren Zukunft im Vordergrund. Es geht nicht um die Wiederbelebung einer alten Ordnung, sondern um ein neues, anderes Morgen. Es geht um die Infragestellung des staatlichen politischen Monopols. Und es geht um Solidarität. Das alles hat ein kollektives Gefühl der Zusammengehörigkeit bei Iranerinnen und Iranern geschaffen. Die größte Angst ist die Niederlage, nicht die Angst vor einem Bürgerkrieg oder der Intervention anderer Staaten, wie das bei vorherigen Protestwellen der Fall war.

Was ist anders als bei den Protesten 2009 oder 2017 bis 2019?

Zunächst einmal ist diese Bewegung nicht auf eine oder wenige Regionen beschränkt. Sie hat zwar in der iranischen Provinz Kurdistan angefangen, sich aber schnell auf das ganze Land ausgedehnt – über ethnische Landesgrenzen hinweg. 2009 zielten die Proteste auf die Ergebnisse der damaligen Präsidentschaftswahl ab und fanden hauptsächlich in Teheran und anderen großen Städten statt. Und in den Jahren 2017 bis 2019 gingen vor allem wirtschaftlich ausgegrenzte und unzufriedene Menschen, die keine Perspektive für eine bessere Zukunft hatten, in den marginalisierten Teilen des Landes auf die Straße. Dieses Mal wollen Menschen radikalere Veränderungen: mehr Freiheiten für Frauen und das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Für mich ist das eine feministische Revolution.

Sie beziehen sich damit auf den Leitspruch der Proteste: „Jin, Jiyan, Azadî“ („Frau, Leben, Freiheit“) – der auch von männlichen Protestierenden benutzt wird.

Das ist für mich das Schöne an dieser Revolution: die Art und Weise, wie die Menschen ihre Sensibilität für die Unterdrückung eines anderen Teils der Gesellschaft zeigen. Es ist etwas sehr Feministisches, den Schmerz und das Leid der verschiedenen von Diskriminierung betroffenen Gruppen anzuerkennen. Aber Feminismus befasst sich nicht nur mit den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen. Frauen stehen bei dieser Revolution zwar an der Spitze, aber es geht um mehr als um den Hidschab-Zwang. Es geht darum, wie der Islamische Staat versucht, Körper und Leben zu beherrschen. Das betrifft vor allem Cis-Frauen und LGBTQIA+-Menschen. Für viele ist es nicht nur eine Rebellion gegen den Staat. Es ist zugleich eine Revolte gegen das Patriarchat. Diese Revolution birgt also die Chance, die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen und das Verständnis von Männlichkeit zu verändern.

Kurdistan, Protest (Foto: Anonym/Middle East Images/laif)
Im kurdischen Sanandadsch, einer Protesthochburg, versammeln sich Menschen um ein Feuer (Foto: Anonym/Middle East Images/laif)

Welche Vorstellung von Männlichkeit meinen Sie?

In der westlichen Welt herrscht das Klischee, dass ein Mann aus dem Mittleren Osten gewalttätig ist und die Frau vor ihm gerettet werden muss. Das ist eine sehr koloniale Vorstellung. Indem die Bewegung zeigt, dass Männer und Frauen gemeinsam für mehr Freiheit und Gleichheit eintreten, zeigt sie auch, dass es an der Zeit ist, diese Annahmen zu überdenken. Das bedeutet jedoch nicht, dass das starke Patriarchat eines Tages völlig verschwinden wird.

In Kurdistan sind die Proteste besonders stark. Ebenso die Gewalt gegen die Protestierenden. Geht es bei den Protesten auch um mehr Rechte für Kurd:innen?

Der Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ stammt aus dem kurdischen Kampf in den kurdischen Gebieten und wurde vor allem durch den Widerstand in Rojava, im Nordosten von Syrien, bekannt. Und natürlich geht es darum, sich gegen die Diskriminierung von Minderheiten im Allgemeinen und für die Gleichberechtigung einzusetzen. Viele Demonstrierende unterstützen die kurdische Bewegung. Aber man kann die Proteste nicht auf einen Faktor beschränken. Vielmehr steht über allem das Ziel, frei leben zu können – egal ob als Frau, Mann, Kurdin, Perser oder Teil jeder anderen ethnischen Gruppe.

Könnten die Proteste also wirklich Erfolg haben?

Niemand kann diese Frage verlässlich beantworten. Aber das bestehende Regime wird nicht ohne große Veränderungen davonkommen. Letztendlich müssen sich die iranischen Behörden jedoch weigern, Menschen zu erschießen. Aktuell sind sie dazu noch nicht bereit. Trotzdem bin ich verhalten optimistisch.

Wieso?

Für die jungen Menschen, die die Proteste anführen, gibt es kein Zurück mehr. Das Regime, das seit über 40 Jahren an der Macht ist, hat ihnen ein besseres Leben versprochen und dieses Versprechen nicht gehalten. Viele haben keine Perspektive und das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Manche haben das Land sogar verlassen. Sie werden nicht so schnell aufgeben. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Proteste noch Monate, wenn nicht Jahre weitergehen werden.

Manche glauben, es bräuchte eine:n Anführer:in, um die Proteste über so lange Zeit erfolgreich weiterführen zu können.

Führerlos zu sein hat auch große Vorteile: Das macht es dem Regime schwer, bestimmte Personen ins Gefängnis zu stecken und die Bewegung damit zu unterdrücken. Ein Anführer sollte sich eher natürlich herauskristallisieren und das Ergebnis der Revolution sein. Doch egal ob mit oder ohne Anführer: Diese Revolution ist die beste Chance seit langem, eine bessere und gerechtere Gesellschaft im Iran zu schaffen.

Das Interview wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

Nader Talebi versteht sich als Aktivist und ist Wissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort arbeitet er zu den Themen Migration und Revolution im Mittleren Osten. Seit 2015 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Seine Doktorarbeit schrieb er über die iranische Revolution von 1979.

Titelbild: IranWire/Middle East Images/laif

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.