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Get Aufmerksamkeit or die tryin’

Die Comiczeichnerin Léa Murawiec entwirft in „Die große Leere“ eine schaurige Welt: Sobald hier nicht mehr genug Menschen an dich denken, stirbst du

Die grosse Leere

Würde ich damit nicht die ganze Spannung aus dieser schaurig-schönen Geschichte nehmen, ich würde nur über ihr Ende schreiben. Denn: Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es hinten und vorne nicht. Sofort nach der letzten Seite von Léa Murawiecs Comic „Die große Leere“ begannen Gedanken in mir zu wilden Theorien zu mutieren. Ich dachte beim Äpfelabwiegen im Supermarkt über die Bedeutung des Endes nach, beim Feierabendbier in der Bar, und beim Nachhausegehen knallte ich deswegen mit dem Fuß an einen Pfosten. Es tat weh wie Hölle. Ich frage mich: Sind diese Schmerzen nicht das größte Kompliment für diesen Comic?

Aber mal von Anfang an. Denn nicht nur wegen seines Endes hat mich „Die große Leere“ nachhaltig beschäftigt.

In der Geschichte begleiten wir Manel Naher. Sie ist vielleicht Mitte 20, hat langes dunkles Haar und liebt Bücher. So sehr, dass sie den ganzen Buchladen ihres Freundes Patrick schon zweimal leer gelesen hat. Eher aus Verzweiflung wirft sie einen Blick in das Zeitungsregal und entdeckt, dass ihr Name auf allen Titelseiten steht. Es ist Manels Namensdoppelgängerin, die einen riesigen Hitsong gelandet hat. Der Titel: „Mein Name ist in aller Munde“. Unsere Manel denkt sich erst nichts dabei, doch Patrick, einer ihrer nur zwei Freunde, ahnt Schlimmes.

Die große Leere

Denn in ihrer Welt dreht sich alles nur um eins: Aufmerksamkeit. Du existierst nur, wenn du im Kopf deiner Mitmenschen existierst. Sobald nicht mehr genug Menschen an dich denken, stirbst du. Bist du berühmt, bist du unsterblich.

Die ganze Gesellschaft hat sich um diese Gegebenheit herum organisiert. Die Menschen haben sich in einer enormen, namenlosen Großstadt zusammengerottet, eine Art Schanghai auf Steroiden. Die Betontürme scheinen endlos in die Höhe zu wachsen, die Bewohner zwängen sich in Minizimmer. Vor den Fenstern hängen ihre Namen in großen Leuchtreklamen.

Die Tristesse spiegelt sich auch in Murawiecs Zeichenstil wider: Ihre Figuren sind simpel, haben aber trotzdem viel Ausdruck. Manels Welt ist meist in düsterem Blau gehalten, wenn es um das hektische Großstadtleben geht, mischt sich Rot dazu.

Manel verdient ihr Geld in einer Art Aufmerksamkeitsfabrik. Sie betrachtet den ganzen Tag die Namen von einsamen Menschen, die auf Zetteln vor ihr liegen und an Plakaten über ihr hängen. Ohne Manels Aufmerksamkeit würden sie sterben. Und dann, als Manel am nächsten Tag wieder in Patricks Buchladen kommt, verschwindet plötzlich die Farbe aus ihren Augen. Sie greift sich an die Brust. Ihr Herz setzt aus.

Die grosse Leere

Kurze Zeit später wacht sie im Krankenhaus auf. Ihr Zustand sei immer noch kritisch, sagt eine Ärztin. Die Menschen verbänden ihren Namen nun mit dem Gesicht der anderen Manel Naher. Es sei selten, dass jemand in ihrem Alter so wenig Präsenz habe. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben sei. Die Ärztin verschreibt Manel deshalb eine Intensivbehandlung. Mindestens vier Mal in einen Club, fünf Mal zum Kaffeetrinken und Wer-bin-ich-Spielen – pro Woche. Manel will nicht. Manel will raus aus dieser Stadt.

Gemeinsam mit ihrem anderen Freund Ali will sie in etwas, das alle nur „Die große Leere“ nennen. Es ist außerhalb der Stadt, außerhalb der brutalen Aufmerksamkeitsökonomie. Niemand soll je daraus zurückgekommen sein. Für die beiden klingt das wie das Paradies.

Aufmerksamkeit heißt Endorphine heißt Glück

Natürlich ist die Geschichte von Manel vor allem die Geschichte einer von (sozialen) Medien aufgedopten Vergleichsgesellschaft. Aufmerksamkeit heißt Endorphine heißt Glück, ein menschliches Grundbedürfnis. Nur: Von welcher Qualität ist diese Aufmerksamkeit? Wie langfristig befriedigen Likes und Bekanntheit? Letzen Endes tauscht Léa Murawiec nur die Verben zur tatsächlichen Gegenwart aus. Jeder kann heute gesehen werden. In „Die große Leere“ muss jeder gesehen werden.

Murawiec zeigt damit sehr gut die Funktionsweisen und die damit einhergehende Tristesse von sozialen Medien, indem sie die Dynamiken aus der digitalen in die analoge Welt bringt. Manel wird im Verlauf des Comics von diesen Dynamiken verschluckt. Sie wird berühmt und unsterblich, vergisst Freunde, Familie, sich selbst. Und bekommt am Ende – Achtung: Spoiler – doch noch einmal die Chance, alldem zu entfliehen. Nach einer Art Erweckungserlebnis bricht sie aus der Stadt aus, hinein in die Natur. „Die große Leere“, da ist sie.

Die grosse Leere

Als Manel durch die Wälder streift, entdeckt sie eine kleine, friedlich wirkende Siedlung. Sie ist genau da, wo sie hinwollte, in ihrem Paradies. Sie zögert ein paar Momente. Dann dreht sie sich um, zurück zur Stadt.

Und genau das ist dieses Ende, das ich nicht verstehe. Sowohl die Bildsprache als auch die Moral, die der Geschichte zugrunde liegt, laufen auf das „Happy End“ in der Leere hinaus. Warum wendet sich Manel davon ab? Weil man sozialen Medien nicht entkommen kann? Weil wir lieber berühmt als glücklich sind? Weil viele von uns überhaupt gar nicht glücklich sein können? Oder sind wir einfach zu feige für Neues?

Doch gerade weil „Die große Leere“ dieses Ende hat, finde ich den Comic so gut. Er bleibt in Erinnerung.

„Die große Leere“ von Léa Murawiec, übersetzt aus dem Französischen von Christoph Schuler, ist beim Verlag Edition Moderne erschienen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.