Cátia Maria da Conceição schlendert durch den Supermarkt, packt Würstchen, Margarine und einen Salatkopf in den Einkaufswagen. An der Kasse holt sie eine rote Bankkarte aus der Geldbörse und steckt sie in das Lesegerät. Was diesen Einkauf besonders macht: Die Stadt hat ihn bezahlt.
Conceição, 59 Jahre alt, bunter Turban, Achtzigerjahre-Brille, erhält ein Grundeinkommen.
Die Stadt Maricá ist rund 60 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt, liegt traumhaft zwischen Atlantik und hügeligem Hinterland und war bis vor kurzem ein verschlafenes Nest. Gut 160.000 Menschen leben hier. Dass nun Forscher*innen aus der ganzen Welt die selbsterklärte „Stadt der Utopien“ aufsuchen, hat mit einem außergewöhnlichen Experiment zu tun: Maricá wurde zu einem Labor für progressive Lokalpolitik.
Herzstück des Projekts ist das Grundeinkommen. 42.500 Bürger*innen erhalten eine lokale virtuelle Währung. Mumbuca heißt sie, wie ein Fluss in der Region. Es ist kein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es hierzulande häufig zur Debatte steht, sondern eher eine Art niedrigschwellige Grundsicherung: Um das Geld zu erhalten, muss man seit mindestens drei Jahren in Maricá gemeldet sein und ein Familieneinkommen von weniger als drei Mindestlöhnen haben. Umgerechnet fast 40 US-Dollar pro Person gibt es pro Monat. Das ist nicht viel, aber für viele Bürger*innen eine wichtige Unterstützung. Wie für Conceição.
Nachdem sie sich von ihrem gewalttätigen Mann getrennt hatte, sei sie fast auf der Straße gelandet, sagt sie. Mit der Mumbuca habe die Mutter zweier Kinder ihre Lebensmittel bezahlen können, erhielt zudem einen Zuschuss für die Miete sowie Beratung im lokalen Frauenhaus. „Ich habe dieser Stadt so viel zu verdanken.“ Conceição schaffte es, wieder auf die Beine zu kommen. Heute arbeitet sie als Make-up-Artist, verdient damit aber immer noch unter der Mindestlohngrenze. Außerdem engagiert sie sich als Aktivistin.
„Wir haben nicht die kreativsten Ideen, unser Modell ist eigentlich ganz einfach“, sagt Adalton Mendonça, Sekretär für Solidarische Ökonomie der Stadt. Er sitzt in einem schlichten Büro, die Klimaanlage rattert. Die Stadt müsse sich um ihre Bürger*innen kümmern, sagt er. Was nach einer Phrase klingt, ist in Maricá zu einer ehrgeizigen Mission geworden. An einer Wand hängt ein Bild des umstrittenen Revolutionärs und Guerillaführers Ernesto „Che“ Guevara: „Jeder soziale Fortschritt muss erkämpft werden, dafür ist Che ein Vorbild.“ Mendonça ist Mitglied der Arbeiterpartei PT, der Partei des amtierenden Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva.
2008 gewann die Partei die Bürgermeisterwahl in Maricá, und eine Gruppe junger Mitglieder legte ambitionierte Pläne vor. Am Anfang seien sie belächelt worden, sagt Mendonça. Doch der Erfolg ließ die Kritik verstummen. Neben dem Grundeinkommen gibt es heute viele Dinge, von denen andere brasilianische Gemeinden nur träumen können. Der Stadtbus, liebevoll vermelhinho, der kleine Rote, genannt, ist kostenlos. Ein Finanzprogramm unterstützt Studierende, massive Investitionen fördern die Infrastruktur. Die Stadt wirkt vergleichsweise sauber, es gibt kaum Obdachlose. Wie ist das möglich?
Die Antwort liegt vor Maricás Küste unter dem Meeresspiegel. Dort wurden 2006 gewaltige Ölvorkommen entdeckt. Inzwischen fördert der halbstaatliche Konzern Petrobras das „schwarze Gold“, die Stadt erhält Entschädigungen. Umgerechnet rund 150 Millionen Euro spült dieser Deal pro Jahr in die Kassen der Stadt.
Hatte Maricá also einfach nur Glück? Mendonça schüttelt den Kopf. Es sei eine politische Entscheidung, was man mit dem Geld macht. In vielen anderen Gemeinden wurde Öl vor den Küsten entdeckt. Doch in diesen „kleinen Emiraten“ nutzten sie das Geld anders, zogen Luxusprojekte hoch, oder es versickerte im Korruptionssumpf. Einige seien reich geworden, aber das Gros der Bevölkerung ging leer aus, sagt Mendonça. Maricás Stadtverwaltung will das anders machen und steckt den Großteil der Ölgelder in soziale Projekte.
An einem Ort läuft alles zusammen: das Geld vom Öl und das soziale Engagement. Nur wenige Fußminuten vom schmucken städtischen Hauptplatz entfernt befindet sich ein rot-weißer Flachbau: die Mumbuca-Bank. „Wir sehen jeden Tag, dass die Menschen hinter dem Modell stehen“, meint Manuela Mello, 23, Direktorin der Bank. Obwohl sie die Bank leitet, bedient sie immer noch selbst Kund*innen.
Mello erklärt, wie das Modell funktioniert: Die Mumbuca-Währung entspricht eins zu eins der Landeswährung Real. Das Geld ist digital, man kann es nicht abheben oder umwandeln. Besonders wichtig: Mumbuca wird nur in Maricá akzeptiert. An vielen Friseurläden, Apotheken, Supermärkten und Tankstellen hängen Schilder, darauf zu lesen: „Wir akzeptieren Mumbuca.“ Denn das Grundeinkommen soll in der Stadt bleiben und so die lokale Wirtschaft stärken. „Zirkuläre Ökonomie“ nennen Wissenschaftler*innen das. Auf jede Transaktion mit Mumbuca werden zwei Prozent aufgeschlagen. Dieses Geld geht zurück an die Bank, um weitere soziale Projekte wie zinslose Kredite für die Renovierung von Häusern zu finanzieren.
In vielen Ländern wird über solidarische Ökonomie diskutiert. Aber bisher ging es an keinem Ort über kleinere Pilotprojekte hinaus. Das soll in Maricá anders laufen: Wenn es nach Mello geht, sollen irgendwann alle Bürger*innen Mumbuca erhalten. Dem brasilianischen Parlament liegt seit vielen Jahren ein Gesetzentwurf vor, der ein universelles Einkommen vorsieht. Es ist aber unwahrscheinlich, dass ein solches Projekt im krisengebeutelten Brasilien derzeit landesweit umsetzbar ist.
Argumente für ein Grundeinkommen lieferte Maricá während der Corona-Pandemie. Die Stadtverwaltung hob den Mumbuca-Satz deutlich an und trug dazu bei, Bewohner*innen vor dem finanziellen Absturz zu bewahren. Während woanders reihenweise Menschen ihre Arbeit verloren, gelang es in Maricá sogar, neue Jobs zu schaffen. Die Stadt eröffnete ebenfalls ein neues Krankenhaus, in dem Corona-Patient*innen behandelt wurden.
Kein Wunder, dass in der Stadt fast alle Bürger*innen hinter dem Modell stehen. Der linke Bürgermeister Fabiano Horta wurde mit spektakulären 88 Prozent wiedergewählt, auch mit den Stimmen von Fans des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro. Was einigen jedoch Sorgen bereitet: Irgendwann wird Schluss sein mit der Ölförderung. Und dann?
Die Stadt will sich unabhängig von den Einnahmen machen, hat einen Spezialfonds eingerichtet und testet neue Wege. Maricá bleibt kreativ. Auch dafür liebt Conceição ihre Stadt. Nie würde sie woanders hinziehen. „Wir sind auf dem richtigen Weg, ein Vorbild für das ganze Land.“ Sie stockt kurz, und dann sagt sie: „Und vielleicht auch für die ganze Welt.“