Die Bilder der Proteste in Hongkong gingen um die Welt. Vor allem junge Menschen gingen für Demokratie auf die Straße – 2014 als „Umbrella Movement“ und 2019 sowie 2020 gegen die Peking-nahe Regierung. Wie lebt es sich heute in der Stadt? Wie geht es den Vorreitern der Proteste? Gibt es noch Widerstand? Drei Hongkonger/-innen berichten.
„Keiner weiß genau, was legal und was illegal ist“
Joyce*, 42 Jahre, arbeitet als Marketingberaterin in Hongkong. Spätestens seit dem Inkrafttreten des nationalen Sicherheitsgesetzes im Juni 2020 überlegt sie, ihre Heimat zu verlassen.
Während meiner Kindheit hatten wir die Königin Elizabeth auf den Briefmarken und in unseren Köpfen. Ich fühlte mich China in keiner Weise verbunden. Ich war früher nicht politisch interessiert. Das wurde uns in dem kolonialisierten Bildungssystem der Briten nicht beigebracht. Es lehrte, der Politik nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken
Hongkong war ein glücklicher Ort. Wir haben Strände, wunderschöne Berge. Man kann wandern, schwimmen gehen, das Essen ist gut. Die Menschen sind sehr aufgeschlossen. Ich hatte hier immer ein Gefühl von Freiheit gespürt. Vieles davon empfinde ich bis heute. Doch wie lange können wir noch bleiben? Viele meiner Freunde und Familienmitglieder sind gegangen. Meist aus politischen Gründen. Auch mein Mann und ich diskutieren darüber, ob wir Hongkong verlassen sollten. Der Hauptgrund wären unsere zwei Kinder. Ich möchte nicht, dass sie in der Schule einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Einige Lehrbücher wurden bereits umgeschrieben und zensiert. In Zukunft soll Patriotismus gelehrt werden, Lehrkräfte müssen der Regierung Treue schwören. Viele ausländische Lehrer, aber auch solche aus Hongkong gehen weg.
Während der ersten Demonstrationen 2014 hatte ich gerade meine Tochter bekommen. Manchmal saß ich nach der Arbeit mit den Studenten auf der Straße zusammen. Dann musste ich zu meinem Baby. Die Proteste waren ruhig. Lehrer kamen, um die jungen Protestler zu unterrichten. Aber die Regierung vertrieb sie zum Schluss mit Gewalt. Das spielte eine Rolle für die Proteste 2019, wo sich die Studenten schon vorher Taktiken überlegten, um sich gegen die Polizeiangriffe zu wehren.
Die Demonstranten nutzten ihre Telefone für Liveübertragungen. Ich sah jeden Abend, wie die jungen Menschen verprügelt wurden. Ich begann, selbst mehr an den Protesten teilzunehmen. Bei Nacht wurde es gefährlich. Dann brannten die Demonstranten Mülltonnen nieder und versuchten, die Polizei fernzuhalten. Irgendwann setzte diese tagsüber Wasserwerfer ein. Zwei Tränengasbehälter fielen einmal direkt neben meine Füße. Ich ließ mir die Augen reinigen und ging nach Hause.
Heute gibt es das Gesetz zur nationalen Sicherheit, das Hongkong für immer zerstören wird. Niemand weiß mehr genau, was legal, was illegal ist. Niemand wird je wieder protestieren. Diese Freiheit haben wir verloren.
Es ist schwer, heute noch Widerstand zu leisten. Doch es geht. Ich entscheide bewusst, wo ich mein Geld ausgebe: Unternehmen, die die Regierung und China unterstützen, meide ich. Es gibt Apps, in denen sie vermerkt sind. Das ist unsere kleine Rebellion.
„Von nun an können sie jeden willkürlich verhaften“
Kacey Wong, 53 Jahre, setzte mit seiner Kunst während der Proteste ein Zeichen gegen die chinesische Regierung. Da er zuletzt nicht mehr das Gefühl hatte, sich frei ausleben zu können, floh er nach Taiwan.
Als der chinesische Künstler Ai Weiwei 2011 in Peking verhaftet wurde, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass wir auch in Hongkong die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks verlieren könnten. Mit anderen organisierte ich einen Protest. Wir forderten seine Freilassung. Für die Demonstration erschuf ich eine Figur aus Holz, Wolle und Leder namens „Grass Mud Horse“, ein „Grasschlammpferd“. Es war von einem Foto von Ai Weiwei inspiriert. Auf Rädern zogen wir es durch Hongkong, ich ritt auf ihm, hielt eine Rede. Es ist eines der wenigen Werke, die ich nun mit nach Taiwan genommen habe.
Die Proteste gaben mir die Gelegenheit, die Grenzen zu verschieben, wo man Kunst zeigen kann. Statt in einem Museum konnte ich den öffentlichen Raum nutzen. Der ist in Hongkong normalerweise streng kontrolliert. Während der Proteste wurde er frei nutzbar: Mein Körper und ich wurden zum Kunstwerk, die Straße zu meiner Galerie. Eine andere Installation war eine rote Gefängniszelle, die ich mitnahm. Ich selbst verkleidete mich als ein chinesischer Polizist, der alle anschrie und versuchte, sie in den Käfig zu sperren. Ich hatte das Gefühl, die Demonstranten zu ermächtigen.
Auch 2019 ging ich mit den Studenten auf die Straße. Die Proteste waren viel gewalttätiger als zuvor. Ich verkleidete mich wieder als Polizist und sang mit den Demonstranten oder tarnte mich als Spartaner, um die jungen Demonstranten zu ermutigen.
Als die ersten Menschen nach der Einführung des nationalen Sicherheitsgesetzes verhaftet wurden, war das für mich der Warnschuss. Von nun an können sie jeden willkürlich verhaften. Ich packte meine Taschen und schloss meine Studios – ohne jemandem von meinem Plan zu erzählen, ins Exil nach Taiwan zu gehen. Das war sehr quälend.
Für mich steht fest, dass es eine Ausreise für immer ist. Es ist der einzige Weg, der mir garantiert, meine Kunst auszuleben, ohne mich einzuschränken. Wäre ich geblieben oder würde ich fest einplanen zurückzukehren, hätte ich einige Kunstwerke nicht kreieren oder Interviews nicht geben können.
Letztes Jahr habe ich in Taiwan Ausstellungen zu Hongkong veranstaltet. Noch immer sitzen dort viele im Gefängnis oder werden verfolgt. Ich habe sie nicht vergessen. Ich werde große Teile meiner Kunst weiterhin Hongkong und den Menschen widmen – in der Hoffnung auf ihre Freiheit.
„Ich sah nicht mehr, dass friedliche Mittel uns weiterbringen“
Ray Wong, 29 Jahre, gründete 2015 in Hongkong eine Aktivistengruppe. Mehrmals wurde er verhaftet. Ihm drohten mehrere Jahre Haft. Heute lebt er im Exil in Göttingen.
Ich dachte früher nicht viel über die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nach. Der Bedeutung dieser Werte werden sich Menschen erst bewusst, wenn sie bedroht sind. Nach meinem Studium arbeitete ich als Innenarchitekt. Ich wollte Geld sparen und die Welt bereisen. 2014 brachen die Demonstrationen des „Umbrella Movement“ aus, für freie Wahlen in Hongkong. Ich blieb, um mitzudemonstrieren. Dann wollte ich losziehen. So weit kam es nie. Ich hatte mich voll auf den Aktivismus eingelassen und gründete die Gruppe „Hong Kong Indigenous“, die später zu einer politischen Partei wurde. Wir regten unter anderem die Diskussion an, ob Hongkong unabhängig werden könnte.
Im Verlauf der Demonstrationen änderte ich meine Meinung, welche Methoden im Protest angemessen sind. Ich sah nicht mehr, dass friedliche Mittel uns weiterbringen, da unsere Regierung nicht demokratisch gewählt ist und ihre Souveränität in Peking liegt. Ich plädierte für radikalere Wege. Wir mussten der Regierung zusätzliche Kosten aufbürden: durch das Besetzen von Straßen und Blockieren des Parlaments, durch eine direkte Konfrontation mit der Polizei.
Natürlich gerieten wir ins Visier der Regierung. Sechsmal wurde ich verhaftet. Das letzte Mal im Februar 2016. Ich wurde wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt. Die Höchststrafe betrug zehn Jahre. Ich wurde auf Kaution freigelassen, das Gerichtsverfahren sollte zwei Jahre später beginnen. Dass ich keinen fairen Prozess bekommen würde, stand für mich fest. Ich beschloss zu fliehen. Im November 2017 ließ ich mich von einer deutschen Organisation zu einer Konferenz einladen. Dafür durfte ich, trotz meiner Auflagen, das Land verlassen. In Deutschland angekommen, bat ich um Asyl. Ich wurde als politischer Flüchtling anerkannt. Der Verteilungsschlüssel brachte mich nach Göttingen. Hier studiere ich heute Politik.
Während der Proteste 2019 fühlte ich mich schrecklich nutzlos. Viele kämpften in Hongkong jeden Tag mit der Polizei. Und ich saß in dieser kleinen, friedlichen deutschen Stadt. Ein Leben in einer Parallelwelt. Das Einzige, was ich aus Deutschland tun konnte, war mit den Medien und der Politik über die Situation in Hongkong zu sprechen. Das mache ich bis heute.
Unter den 47 Menschen, die heute vor Gericht stehen, sind viele meiner Freunde. Das Ganze ist eine politische Show der Kommunistischen Partei Chinas, um zu zeigen: Wer in Hongkong gegen die Parteilinie verstößt, bekommt das zu spüren. Gleichzeitig werden sie, so meine Vermutung, am Ende wenige freilassen, um den Schein zu erwecken, dass es noch ein funktionierendes Justizsystem gibt.
Trotz allem habe ich Hoffnung, dass ich einmal in ein freies und demokratisches Hongkong zurückkehre. Den Fall der Mauer hat schließlich auch niemand kommen sehen.
* Name von der Redaktion geändert