Am Hermannplatz ist Neukölln am urbansten und vielleicht auch am kaputtesten. Für die Polizei gelten hier, wo besonders viele Straftaten stattfinden, Sonderrechte, dazu gehören zum Beispiel Personen- oder Fahrzeugkontrollen ohne konkreten Verdacht. Heute ist Markttag, doch auch das macht den Ort nicht gemütlicher: Gemüsekisten stapeln sich an einem Bauzaun, an den wenigen schmucklosen Ständen werden Obst, Hotdogs und Sonnenbrillen für fünf Euro verkauft. Es sind viele Menschen unterwegs, doch fast alle eilen an den Ständen vorbei zur U-Bahn.
Auf der ersten Etappe geht es in den Norden Neuköllns, wo die Gentrifizierung ihren Anfang nahm
Vor dem kastenförmigen Galeria-Kaufhaus ist weniger los. Unter dem Vordach schläft eine Obdachlose auf einem Lager aus alten Matratzen, anscheinend sehr tief, ihr Oberteil ist hochgerutscht und legt einen massigen Bauch frei. Einige Leute verlangsamen den Gang, schauen verstohlen hin und gehen dann weiter. Würde es dem Platz guttun, wenn die Galeria-Filiale umgebaut würde? Wenn sie edler, höher, prächtiger würde, ein bisschen so, wie sie 1929 aussah, als hier eines der größten und modernsten Warenhäuser Europas eröffnet wurde? Ein Investor hat genau das vor, und eine Bürgerinitiative versucht, es zu verhindern. Sie befürchtet Nachteile für kleinere Läden in der Nachbarschaft und Gentrifizierung ganz allgemein.
Und damit kennt man sich hier aus, denn vor rund 20 Jahren fing es gleich um die Ecke an mit der Eroberung Neuköllns durch Studierende, Kreative, Hipster: Von Kreuzberg aus schwappte die Gentrifizierungswelle über die Bezirksgrenze Kottbusser Damm. Längst sind die Altbauquartiere auf beiden Seiten beliebt und teuer – nur die Straße dazwischen hat davon wenig abbekommen. Ich zähle: 13 Döner- und Köfteläden, zehn Spätis, sieben Handyshops, mehrere Nagelstudios, Wettcafés und Spielotheken. Am Landwehrkanal biege ich dann rechts ab. Das Ufer hier ist bekannt für den „Türkenmarkt“, der zweimal die Woche stattfindet und in keinem Fernsehbeitrag über Multikulti-Berlin fehlen darf. Später wird es unspektakulär, eine Wohngegend, wo der „Trödel Dödel 2“ noch zu den aufregenderen Geschäften gehört. Der Hermannplatz ist hier weit weg.
Die Autobahn ist schon da, aber noch nutzt sie niemand. Nicht mal Markierungen finden sich auf den leeren Asphaltbahnen unter mir. Hier wird mitten in der Stadt die Stadtautobahn verlängert, und der Großteil der 3,2 Kilometer führt durch Neukölln, Kosten: ungefähr 720 Millionen Euro, pro Meter macht das kaum vorstellbare 225.000 Euro.
Von hier geht es eine Ausfallstraße entlang, an ihren Rändern keine Häuser, stattdessen Werbetafeln, Kleingartenanlagen, auch mal ein Haufen Müllsäcke. Nach gut einem Kilometer knickt die Bezirksgrenze nach rechts weg und ist nun ein Bach voller Entengrütze. Daneben ein Trampelpfad, junge Birken und eine geschwungene Asphaltbahn, der Mauerradweg: ein Ort für Radfahrer und Jogger. Für manche stehen motivierende Worte auf dem Boden: Jörn go! Andreas go! Marcel + Fabian only RUN’n‘Roll!
Die zweite Etappe führt in eine futuristische Wohnanlage aus den 1970er-Jahren
Ich überquere die Sonnenallee, die hier nichts mehr mit der lärmenden, von arabischen Geschäften geprägten Straße an ihrem Beginn zu tun hat. Dafür hat sie architektonisch etwas zu bieten: die High-Deck-Siedlung, ein futuristisch anmutender Komplex für 6.000 Bewohner, entstanden in den 1970er- und 1980er-Jahren. In der Mitte jeder Straße steht ein großer Hochweg aus Beton – deswegen „High Deck“ –, der nur zu Fuß zu erreichen ist. Von hier geht es über kleine Brücken zu den Hauseingängen. Unten leben die Autos, oben leben die Menschen – an sich eine gute Idee, aber wie viele vergleichbare Stadtrand-Betonsiedlungen trägt auch diese heute den Stempel „sozialer Brennpunkt“. In der Neukölln-Serie „4 Blocks“ wird in den Garagen der Siedlung mit Drogen gehandelt, und im echten Leben fand hier ein Teil der deutschlandweit diskutierten Krawalle in der Silvesternacht 2022/2023 statt.
Und heute? Fährt unten tatsächlich ein Polizeiwagen Streife, während oben ein kleiner Junge auf einem Bobbycar mit Mercedesstern sitzt. Er ist eins von knapp zwei Dutzend spielenden Kindern, insofern geht das Konzept der autofreien High Decks auf. Einige Frauen, die meisten tragen Kopftuch, sitzen auf Campingstühlen am Rand und behalten die Sache im Blick. Aus einem Haus kommt ein Mann mit Kaftan, überhaupt sind Männer nur im Unterwegs-Modus zu sehen. Auch ich mache mich wieder auf den Weg.
Chris Gueffroy wurde nur 20 Jahre alt. Er starb durch einen Schuss ins Herz, abgefeuert von einem DDR-Grenzsoldaten, der seine Flucht durch den Britzer Verbindungskanal in den Westen verhindern wollte. Das war im Februar 1989, nur neun Monate vor dem Mauerfall. Von den mehr als 100 Menschen, die an der Berliner Mauer ihr Leben verloren haben – darunter auch Kinder –, war Gueffroy der letzte, was ihm eine traurige Prominenz verliehen hat. An der Stelle, wo er starb, wurde eine Straße nach ihm benannt, eine Kurzbiografie steht auf einer Gedenktafel. Es ist bei Weitem nicht die einzige dieser Art an der Bezirksgrenze, und viele sind nicht mehr im besten Zustand.
Die dritte Etappe verläuft zwischen Ost und West, entlang von Graffitis und Brombeersträuchern
Der Kanal mündet in eine imponierende Wasserkreuzung, über die sich eine Autobahn spannt. Dieser Abschnitt der A 113 wurde erst nach der Wende gebaut, er verkürzt den Weg von Neukölln nach Dresden, Cottbus, Frankfurt (Oder). Schnurgerade zieht sich der Weg kilometerweit zwischen einer mit Graffiti verzierten Lärmschutzwand und dem von Brombeersträuchern und Pappeln gesäumten Teltowkanal entlang, ein Highway für Fahrradberufspendler und Freizeitsportler. Wer sich fragt, ob es eigentlich noch Inlineskater gibt: Ja, hier. Gemeinsam mit der Autobahn überquere ich den Kanal in Richtung Süden, oben auf der Brücke steht in großen roten Graffitibuchstaben „FCU“, für den 1. FC Union Berlin, und deutlich kleiner: „Hertha BSC“. Die frühere Ost-West-Grenze ist heute eine Battlezone der Fans der beiden großen Berliner Fußballvereine, und wie auf dem Rasen hat der Osten (Union) aktuell die Nase vorn.
Auf der anderen Seite finde ich ein kleines Stück original erhaltene Grenzmauer, das mittlerweile von einem massiven Metallzaun umgeben ist, damit es niemand bemalt oder gar klaut. Und wieder kommt ein langer Abschnitt auf einem autofreien Grünstreifen, dieser nennt sich Landschaftspark Rudow-Altglienicke. Er ist deutlich sorg- und vielfältiger angelegt als die bisherigen Grünstreifen, selbst die Mauergedenktafeln sind hier neuer und besser in Schuss. Auf einer von ihnen lerne ich, dass unter mir in den 1950ern mal ein unterirdischer Spionagetunnel verlief, durch den die US-Amerikaner Ostberliner Telefonleitungen angezapft haben. Heute weidet in unmittelbarer Nähe eine Gruppe Wasserbüffel. Auch das ist Neukölln.
Ab hier ist die Neuköllner Grenze auch die Berliner Stadtgrenze: Unmittelbar links neben mir beginnen Brandenburger Felder, und Pferde traben umher. Auf einigen Schildern wird Honig angeboten aus eigener Imkerei.
Nun geht es hinauf zum südlichsten und zugleich höchsten Punkt von Neukölln, knapp 86 Meter hoch. Wie fast alle Hügel in Berlin ist auch dieser ein künstlicher: Erst wurden Trümmer aus dem Zweiten Weltkrieg aufgeschüttet, später war hier eine Müllkippe. Bis 1975 der „Müllvertrag“ in Kraft trat. Das war ein wortwörtlich schmutziger Deal, durch den Westberliner Abfall, auch aus Neukölln, für viel Westgeld in der DDR entsorgt wurde. Aus der Müllkippe wurde ein Park, der „Neuköllner Dörferblick“. Und der Blick ist wirklich fantastisch! Unter mir starten die Flugzeuge vom Flughafen BER, auf der anderen Seite kann ich ganz Neukölln überblicken.
Auf der vierten Etappe lande ich auf einer stillgelegten Müllkippe und dort, where the streets have no names
Wieder unten, lande ich dort, where the streets have no names, sondern einfach Straße 223 oder Straße 230 heißen. Sie führen durch Reihen von gleichförmigen Einfamilienhäusern. Gelbe Säcke hängen in Reih und Glied überm Jägerzaun, grüne Plastikmännchen mahnen am Straßenrand, auf Schulkinder zu achten. Stadtrand-Kleinsiedlungen wie diese wurden in Deutschland seit den 1920ern gebaut, um die überfüllten Innenstädte zu entlasten. Die Nationalsozialisten intensivierten das noch, auch die Siedlung am Zwickauer Damm wurde 1939 fertiggestellt. Auf Aushängen in Glaskästen erfahre ich das Wichtigste aus dem Alltag der „lieben Siedler und Siedlerinnen“, wie sie in den Schreiben angesprochen werden: Bei der jährlichen Begehung wurde u. a. festgestellt, dass auf einigen Grundstücken die zulässige Heckenhöhe überschritten wurde! Der Weg verläuft nun kurz zwischen Büschen entlang, und plötzlich stehe ich vor einem Hochhaus: Hier beginnt die Gropiusstadt, die Mutter des sozialen Wohnungsbaus, entstanden zwischen 1962 und 1975 mit rund 19.000 Wohneinheiten. Dagegen ist die High-Deck-Siedlung ein Dorf.
Ständig verläuft nun die Grenze zwischen Privatgrundstücken, also fahre ich im Zickzack durchs tiefste Westberlin und lande schließlich in der „Dauerkleingartenanlage Guter Wille“. Schnurgerade Wege, Maschendrahtzaun, dahinter Deutschlandfahnen, bunte Blumen und erntereife Apfelbäume. Im Vereinsheim stehen auf der Karte u. a. Tintenfischringe mit Aioli (8,90 Euro) – leider hat die Küche heute nicht geöffnet. Über 9.300 Kleingartenparzellen gibt es in Neukölln. Gerade im früheren Westberlin waren die Kleingärten wichtige Rückzugsorte – ins Umland fahren konnte man wegen der Mauer ja nicht. Insgesamt gibt es heute in ganz Berlin noch mehr als 70.000 Parzellen. Ihre Existenz ist auch eine politische Frage, denn hier wird im Kleinen verhandelt, wie eine Stadt genutzt werden sollte. Als unversiegelte Grünflächen sind sie wichtig für das Stadtklima, sagen die einen. Es kann nicht sein, dass in Zeiten von Wohnungsknappheit Platz auf diese Weise verschwendet wird, sagen die anderen.
Die letzte Etappe führt ins tiefste Westberlin und einmal mitten durch die „Kolonie Sorgenfrei“
Beliebt sind die Kleingärten auf jeden Fall. Die Wartelisten der Vereine sind voll. Hier an der Grenze von Neukölln gehen die Anlagen nahtlos ineinander über, auf „Guter Wille“ folgen „Ostelbien II“ und die „Kolonie Sorgenfrei“, und auf einmal stehe ich in einem riesigen Industriegebiet. Ein Mann fuhrwerkt mit einem Laubbläser herum, er trägt Ganzkörperanzug und Sichtschutz, und als er mich sieht, hebt er die Hand zum Gruß. Als wäre er ein Außerirdischer. Oder bin ich einer?
Weiter geht es, vorbei an einem Friedhof, einem Autohaus und einem Swingerclub. Erst jetzt wird es wieder urbaner, und kurze Zeit später bin ich schon am S-Bahn-Ring. Plötzlich riecht es nach Keksen. Aus dem Bahlsen-Werk weht süßer Duft herüber. Und vor mir plötzlich: nichts. Kilometerweit reicht der Blick über den ehemaligen Flughafen Tempelhof. Beim Überqueren des Feldes komme ich an einem Bike-Polo-Turnier und einer Gemeinschaftsgartenanlage vorbei, einem zugewucherten Labyrinth aus selbst gezimmerten Hochbeeten und Sitzgelegenheiten. Von Weitem sehe ich jemanden, der beim Joggen einen großen weißen Hund trägt. Auch ich würde jetzt gern getragen werden, nach rund 40 Kilometern Fahrt. Aber die letzten zwei Kilometer zurück zum Hermannplatz schaffe ich dann auch noch so.
Dieser Text ist im fluter Nr. 88 „Neukölln” erschienen.
Das ganze Heft findet ihr hier.