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Hört uns auf mit eurem China

Im Wahlkampf in Taiwan ging es vor allem darum, wie die Parteien zur China-Frage stehen. Doch der Jugend des Landes sind steigende Mieten und fehlende Jobs inzwischen wichtiger

TPP Unterstützer bei einer Wahlkampfveranstaltung

In den Monaten vor Wahlen konzentrieren sich die beiden großen Volksparteien Taiwans normalerweise auf die Frage, wer die Beziehungen zum Nachbarn China am besten regeln kann. Verständlicherweise, denn die Volksrepublik China erhebt mit Nachdruck Anspruch auf die Inselrepublik. Dabei spricht sich die Kuomintang (KMT) für engere Beziehungen zu China aus, während die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) strikt auf die Unabhängigkeit Taiwans pocht.

Doch bei den Präsidentschaftswahlen im Januar 2024 war auf einmal alles anders. Vor allem junge Wähler:innen wandten sich von den beiden großen Volksparteien ab. Einen Monat vor der Wahl hatte der Kandidat der bis dahin unbedeutenden Taiwanischen Volkspartei (TPP), Ko Wen-je, laut einer Umfrage von Ling Media einen Zuwachs von mehr als 9 Prozentpunkten bei Wähler:innen zwischen 30 und 39 Jahren und den zweitstärksten Zuwachs bei den 20- bis 29-Jährigen. 

 

Auch er positionierte sich zur China-Frage und wählte einen Kurs, der zwischen dem der beiden großen Parteien liegt: den Dialog suchen und gleichzeitig das Verteidigungsbudget erhöhen. Aber der Fokus seines Wahlkampfs lag auf den Löhnen, die immer gleich bleiben, und den Immobilienpreisen, die steigen. Den beiden anderen Parteien warf er vor, die innenpolitischen Probleme über die China-Frage zu vergessen.

Die Wahlen 2024 wurden weltweit mit Spannung verfolgt, weil in den vergangenen Jahren die politischen und militärischen Spannungen zwischen China und Taiwan zugenommen haben. Am Ende entschied die DPP die Präsidentschaftswahlen mit gut 40 Prozent für sich, verlor aber die absolute Mehrheit im Parlament. Ko Wen-je gewann mit der TPP aus dem Stand 26,5 Prozent der Stimmen, mehr als je ein anderer Kandidat jenseits der beiden großen Volksparteien.

Warum wählen junge Menschen plötzlich die TPP? Warum interessieren sie sich nicht mehr nur für die Beziehung zu China? Und was treibt sie stattdessen um? 

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Lokale Zeitungen verkünden den Sieg der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) (Foto: Yasuyoshi Chiba /AFP via Getty Images)
Lokale Zeitungen verkünden den Sieg der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) (Foto: Yasuyoshi Chiba /AFP via Getty Images)

Eine, die aus Unzufriedenheit TPP wählte, ist Huang Hsin-Te. Sie ist 26 Jahre alt und arbeitet als Sales Admin für ein Robotics-Unternehmen in Taipeh. Für eine eigene Immobilie reicht ihr Geld auf keinen Fall, und selbst mit einem Job, bei dem sie ganz gut verdient, kann sie es sich nicht leisten, ohne Mitbewohner:innen zu leben.

Den meisten von Huangs Freund:innen geht es ähnlich. „Ich kann zwar in Taipeh leben, aber nicht in Bars oder auswärts essen gehen, und wenn andere auf eine Party gehen, bleib ich zu Hause.“ Den Traum vom Eigenheim habe sie schon lange aufgegeben. Deswegen stimmte sie dieses Jahr das erste Mal für die TPP. Sie hofft, dass Ko die Situation verändern kann. In einem Aktionspapier verspricht er: mehr Sozialwohnungen zu bauen, Steuerreformen für Hausbesitzer:innen und Subventionen für Mieter:innen. „Ich vertraue ihm“, sagt Huang.

Das Gehalt reicht in Taipeh kaum zum Leben

Auch Chen Hsuan reicht ihr Geld nicht. „Früher war es so, dass du Geld verdienst, wenn du hart arbeitest“, sagt die 29-jährige Kuratorin aus Taipeh. „Aber heute ist es anders.“ Sie glaubt allerdings nicht, dass eine andere Partei bessere Lösungsansätze hat als die DPP. Und: Die wirtschaftlichen Probleme Taiwans sind für Chen nicht wahlentscheidend. „Geopolitik ist der wichtigste Faktor für meine Wahl, denn ich habe Angst davor, dass China unsere Freiheit gefährdet.“ Die DPP habe in den letzten acht Jahren das Fundament für die Unabhängigkeit von China gelegt.

 

Wenn Chen mitbekommt, dass Bekannte nicht wählen gehen wollen, sagt sie halb im Scherz: „Geh, es könnte das letzte Mal sein.“ China hat im Vorfeld der Wahlen Militärmanöver in der Nähe der Insel durchgeführt, um die Taiwaner:innen zu verunsichern.

Zum Wählen musste Chen nach Hause zu ihren Eltern fahren, die in Kaohsiung, einer Stadt im Süden, leben. Denn in Taiwan stimmt man nicht dort ab, wo man wohnt, sondern dort, wo der Haushalt der Familie gemeldet ist. Das ist für viele junge Wähler:innen ein finanzielles Problem.

Chang Alvin, Präsident der Taiwan Youth Association for Democracy, hat deshalb mit den Mitteln einer Fundraising-Kampagne Busse und Schiffe gemietet, um junge Wähler:innen in ihre Heimatstädte zu bringen. „Wir haben eine geringe Wahlbeteiligung unter den jungen Wähler:innen“, sagt er. „Wir wollen nicht, dass Geld der Grund dafür ist.“ 1.200 Menschen haben das Angebot der Organisation zufolge bei den Wahlen 2024 angenommen. Auch die zwei Millionen Taiwaner:innen, die im Ausland leben, müssten zum Wählen zurück nach Taiwan fliegen, sonst wird ihre Stimme nicht gezählt. Briefwahl ist aus Angst vor Wahlmanipulation nicht möglich.

Wählen kann man in Taiwan nur dort, wo die Familie gemeldet ist. Der zeitliche und finanzielle Aufwand ist vielen Jüngeren zu viel – sie verlieren ihre Stimme

Lin Wei-Lun findet die Regelung problematisch. Der 27-jährige Fotograf kommt aus Taipeh, aber lebt derzeit in London und musste für die Wahlen einen Langstreckenflug buchen. Er freue sich zwar, seine Familie zu sehen, aber er habe auch Freunde, denen es anders geht. In vielen Familien wütet ein politischer Generationenkonflikt, da viele Eltern noch Kuomintang wählen und es die jüngere Generation in der Vergangenheit eher ins Lager der DPP zog.  Aus Angst vor Auseinandersetzungen reisen einige von Lins Freund:innen nicht nach Hause – und verlieren damit ihre Stimme.

Das ist besonders problematisch, weil Taiwan eine stark alternde Gesellschaft ist und es ohnehin wenig junge Wähler:innen gibt. Die Geburtenrate gehört zu den niedrigsten der Welt. Die Parteien konzentrieren sich in ihren Wahlprogrammen daher eher auf die Belange größerer Alterskohorten und kümmern sich zum Beispiel um eine Verbesserung des Gesundheitssystems für Rentner:innen.

 

Die Interessen der jungen Wähler:innen haben sich verändert, sagt Chang Alvin. Sie interessieren sich zwar immer noch für geopolitische Fragen, aber seit dieser Wahl reden sie auch über Bildung, zum Beispiel über mentale Probleme unter Schüler:innen und die nicht verfügbaren Therapieplätze – bis vor kurzem noch ein Tabu in der taiwanischen Öffentlichkeit. Außerdem mischen sie sich in die Verkehrspolitik ein und fordern sichere Bürgersteige. „Junge Menschen sind keine Single-Issue-Wähler:innen“, sagt Chang Alvin. „Sie interessieren sich für mehr als ein Thema und informieren sich über das Internet.“

Wahl in Taiwan (Foto: Billy H.C. Kwok/Bloomberg via Getty Images)
Eine junge Frau wirft ihren Stimmzettel am Wahltag in die Urne (Foto: Billy H.C. Kwok/Bloomberg via Getty Images)

Die Politikwissenschaftlerin der National Taiwan University, Chang Kuei-min, hat beobachtet, dass die TPP damit punktet, sich mit Parolen von den anderen beiden Parteien abzugrenzen und übers Internet zu mobilisieren. Junge Taiwaner:innen hören über soziale Medien Parolen, dass sich wirtschaftlich etwas verändern soll. Viele wissen aber gar nicht, was die Partei konkret machen will und dass es der Wirtschaft in Taiwan eigentlich nicht so schlecht geht. „Es ist das Narrativ der TPP, das die jungen Leute anzieht.“ Das bereite ihr Sorgen. Die TPP wird deshalb manchmal als populistische Partei bezeichnet.

Viele Erstwähler:innen, die mit der DPP groß geworden sind, sehen diese als politische Elite, die sie ablehnen. Die Hälfte der Wähler:innen unter 40 Jahre unterstützt laut der Ling-Media-Umfrage die TPP. Chang Kuei-min sieht das als große Herausforderung für die Zukunft. „Wir haben 3,5 Millionen unglückliche Wähler:innen, das ist ein schlechtes Zeichen.“ Chang sagt, die TPP habe bei dieser Wahl die Unzufriedenheit der jungen Wähler:innen gebündelt. Deshalb spricht sie sich für mehr Diversität im taiwanischen Parteienspektrum aus. „Das Parlament muss jünger werden und die sozialen Fragen ernst nehmen.“

„Wir haben 3,5 Millionen unglückliche Wähler:innen, das ist ein schlechtes Zeichen. Das Parlament muss jünger werden und die sozialen Fragen ernst nehmen“

Fotograf Lin Wei-Lun kritisiert die Auftritte des TPP-Politikers Ko. „Er äußert sich oft politisch inkorrekt oder sexistisch und behauptet dann, es nicht gesagt zu haben.“ Aber Lin sagt auch, dass Ko ein guter Bürgermeister in Taipeh war und dass er versteht, warum er bei jungen Leuten so gut ankommt. Schon vor seiner Kandidatur zum Präsidenten war Ko bekannt für eigenwillige Aktionen: Er veröffentlichte zum Beispiel einen Rappsong oder ließ sich dabei livestreamen, wie er mit dem Fahrrad in 30 Stunden eine 520-Kilometer-Strecke auf der Insel zurücklegte. „Ich glaube, für viele ist es nicht cool, die KMT oder DPP zu wählen“, sagt Lin. Deren Hauptaugenmerk seien immer die Beziehungen zu China, damit würden sie versuchen, Wähler:innen zu fangen.

Und das macht mehr und mehr junge Menschen wütend. „Ich wünschte mir jemanden, der sich für uns interessiert, denn wir sind frustriert.“ Junge Taiwaner:innen sehnen sich nach einer Zukunft jenseits der China-Frage.

Titelbild: Annice Lyn/Getty Images

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