Warum gibt es die UN-Behindertenrechtskonvention?
Es gibt Rechte, die jeder und jede hat. Diese sogenannten Menschenrechte haben die Vereinten Nationen (UN) bereits 1948 aufgeschrieben. Weil bei manchen Menschen erhöhte Gefahr besteht, dass ihre Menschenrechte missachtet werden, haben die UN deren Rechte noch mal in einem eigenen Abkommen bestärkt. Zum Beispiel für Kinder, Geflüchtete oder eben Menschen mit Behinderung, die weltweit überdurchschnittlich oft benachteiligt wurden und werden. Am 13. Dezember 2006 haben die UN das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ beschlossen, kürzer: die UN-Behindertenrechtskonvention.
Wen schützt sie?
Einen Großteil der weltweit rund eine Milliarde Menschen mit Behinderung. Allein in Deutschland leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts rund acht Millionen schwerbehinderte Menschen – fast jeder zehnte Bürger. Die Schwere einer Behinderung wird mit dem Grad der Behinderung (GdB) in Zehnergraden von 20 bis 100 ausgedrückt. Als schwerbehindert gelten Menschen mit einem GdB ab 50. Nur drei Prozent der Betroffenen sind von Geburt an behindert, nahezu alle anderen schweren Behinderungen sind Folgen einer Krankheit oder eines Unfalls.
Was soll die Konvention bringen?
Sie legt fest, welche Rechte Menschen mit Behinderung haben und dass Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens zu würdigen ist. Sie enthält aber keine Sonderrechte für Menschen mit Behinderung, sondern konkretisiert noch mal ihren Anspruch auf die geltenden Menschenrechte.
Was steht da genau drin?
Die für Deutschland verbindliche Konvention enthält 50 Artikel. Die formulieren die Chancengleichheit und Selbstbestimmung aus, die Menschen mit Behinderung brauchen, um an der Gesellschaft teilhaben zu können. Die Artikel betreffen alle Lebensbereiche. In Artikel 9 zum Beispiel die Barrierefreiheit: Öffentliche Gebäude wie Schulen oder Krankenhäuser, Straßen oder Busse sollen für behinderte Menschen zugänglich sein. Auch das Internet soll barrierefrei eingerichtet sein, unter anderem durch die Übersetzung von Texten in Leichte Sprache.
Weitere Artikel sollen sichern, dass Menschen mit Behinderung selbst entscheiden können, was sie arbeiten und wo und mit wem sie leben wollen, dass sie wählen gehen oder sich kulturell betätigen können. Und die Konvention fordert ein „inklusives Bildungssystem“, also dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Der Staat muss die Bedingungen dafür schaffen, dass das gelingt.
Ist die Konvention ein Gesetz?
Die Konvention ist kein Gesetz. Menschen mit Behinderung können in Deutschland nur die Rechte einklagen, die in den deutschen Gesetzen stehen. Deutschland hat sich aber verpflichtet, seine Gesetze so zu ändern, dass sie zur Konvention passen.
Wer hat unterschrieben?
Die Konvention gilt heute in 189 Staaten (der insgesamt 193 UN-Staaten weltweit), darunter alle Mitgliedsländer der EU. Kein anderes Abkommen wurde so schnell von so vielen Staaten unterschrieben, Deutschland war einer der ersten – mehr als ein Jahr bevor das Abkommen im Mai 2008 in Kraft trat. Schon in der Vorbereitung gab es eine Neuheit: Erstmals bei einem so weitreichenden internationalen Beschluss haben Menschen mit Behinderung und ihre Verbände mit darüber entschieden, welche konkreten Forderungen die Vertragsstaaten erfüllen sollen.
Warum ist die Konvention so besonders?
Zum einen nimmt die Konvention die Gesellschaft in die Verantwortung für Inklusion: Sie erkennt an, „dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht“. Ein Mensch, der mit Rollstuhl lebt, wird also durch seine Umwelt behindert, etwa indem sie Gebäude baut, die nur über Treppen zu erreichen sind. Behinderung wird aus dieser Perspektive zu einer Erfahrung, die ein Mensch vor allem durch sein Umfeld erfährt, weniger durch persönliche (angeborene) Eigenschaften.
Zum anderen ist die Konvention völkerrechtlich verpflichtend. Solche Verträge haben einen besonderen Status: Verstößt ein Staat gegen das Völkerrecht, können gegen ihn weitreichende Strafen verhängt werden, zum Beispiel Wirtschaftssanktionen.
Dann können die UN Deutschland bestrafen, wenn es der Konvention nicht nachkommt?
Offiziell schon. Verstöße gegen das Völkerrecht zu ahnden ist aber kompliziert: Ein Grundsatz des Völkerrechts verbietet es, sich in die „inneren Angelegenheiten“ eines anderen Staates einzumischen. Verstöße gegen die Konvention werden also praktisch nicht bestraft. Die UN setzen auf den guten Willen der Vertragsstaaten, auf „naming and shaming“: Alle verlassen sich darauf, dass niemand vor den anderen schlecht dastehen will.
Wer überprüft, ob die Staaten die Konvention umsetzen?
Die Vertragsstaaten verpflichten sich selbst, eine staatliche Anlaufstelle und eine unabhängige „Monitoring-Stelle“ einzurichten, die Fortschritte und Mängel überwacht. Und die Staaten müssen einem speziellen UN-Ausschuss regelmäßig Fachberichte vorlegen. Auch die zahlreichen Interessenvertretungen schauen genau auf die Situation, etwa der Deutsche Behindertenrat, Aktion Mensch oder der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Und, funktioniert die Konvention? Ist Deutschland inklusiver geworden?
Es wird mehr über Selbstbestimmtheit für Menschen mit Behinderung gesprochen, das Bewusstsein für Inklusion wächst. Gut 15 Jahre nach Inkrafttreten gibt es aber immer noch viele Mängel, vor allem in der Barrierefreiheit. Erst vergangenes Jahr haben die UN Deutschland für seine mangelhafte Inklusionspolitik kritisiert: „In Deutschland besteht weiterhin ein stark ausgebautes System von Sonderstrukturen – sowohl in der schulischen Bildung und bei der Beschäftigung in Werkstätten als auch in Form von großen stationären Wohneinrichtungen.“
Der Fachausschuss fordert, solche Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen abzubauen. Bei allen Diskussionen über Vielfalt werden Menschen mit Behinderungen immer noch zu wenig berücksichtigt.
Und die Vision einer inklusiven Gesellschaft?
Bleibt ein fernes Ziel. Trotzdem ist die Konvention wegweisend, sie hat Bewusstsein und Aufmerksamkeit geschaffen. Sie ist Anlass für alle Vertragsstaaten, ihren Anspruch in den Alltag der Menschen zu bringen.
Ein paar Erfolge gibt es bereits, auch in Deutschland: Mehr Bahnhöfe und Busse wurden mit Rampen oder Aufzügen ausgestattet. Um mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Jobs zu bringen, wurde für fast 175.000 Unternehmen eine Beschäftigungspflicht eingeführt: Sie müssen mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung vergeben. Wobei sich die Unternehmen von dieser Pflicht freikaufen können – was viele auch machen.
Seit 2017 soll das Bundesteilhabegesetz die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärken, zum Beispiel indem sie mehr von ihrem Einkommen und Vermögen behalten dürfen (Eingliederungshilfe). Und 2019 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass Menschen mit Behinderung, die in Vollbetreuung leben, nicht länger von Bundestags- und Europawahlen ausgeschlossen werden dürfen. Nach dem Urteil führte der Bundestag das inklusive Wahlrecht ein.