Ein moderner Bau aus Naturstein in Lissabon. Drinnen: ein Wartezimmer mit Stühlen, die Empfangsdame grüßt freundlich jene, die zur Tür hereinkommen, und reicht Formulare über den Tresen. Ein junger Mann sitzt im Wartebereich, füllt die Anmeldung aus, betritt ein Behandlungszimmer. Nach knapp einer Stunde ist er wieder draußen.
Es ist eine Szene, die sich so beim Zahnarzt abspielen könnte, beim Orthopäden oder bei einer Psychiaterin. Doch das „Instituto para os Comportamentos Aditivos e as Dependências” – ICAD, zu deutsch: Institut für Suchtverhalten und Abhängigkeiten – ist dem portugiesischen Gesundheitsministerium unterstellt und eine von Portugals Anlaufstellen für Menschen, die mit Drogen erwischt wurden.
Wer in Portugal Drogen nimmt, soll vor der Sucht geschützt werden. Und wer schon süchtig ist, dem soll schnell geholfen werden. So sieht es der „Nationale Plan“ vor, der im September 2023 von der portugiesischen Regierung verabschiedet wurde. Doch schon in den frühen 2000ern einigte man sich in Portugal darauf, dass Suchtkranke nicht bestraft, sondern ihnen geholfen werden soll. Und so sind die sterilen Büros des ICAD Teil einer umfassenden Suchtberatung in einem Land, dessen Drogenpolitik als liberalste der Welt gilt.
Nur noch eine Ordnungswidrigkeit
Nach einer Drogenkrise in den 1980er- und 1990er-Jahren hat die portugiesische Regierung 2001 den Konsum und den privaten Besitz aller Drogen entkriminalisiert. Beides wird seitdem als Ordnungswidrigkeit geahndet, ähnlich wie Falschparken oder Wildpinkeln in Deutschland. Strafbar nach Strafgesetzbuch macht sich nur, wer eine größere Menge an Drogen mit sich führt, die potenziell nicht mehr für den Eigenbedarf bestimmt sind, denn der Verkauf und Kauf von Drogen sind in Portugal weiterhin illegal. Wer etwa mit mehr als 25 Gramm Cannabis oder mehr als einem Gramm Heroin erwischt wird, kassiert eine Anzeige fürs Dealen.
Alles, was unter diese Grenzwerte fällt, ist eine Ordnungswidrigkeit und führt allenfalls zu einem Bußgeld von einigen Hundert Euro, manchmal zu Sozialstunden oder Führerscheinentzug. Und immer zu einem Gespräch in einem der Büros des ICAD.
Dort versucht ein dreiköpfiges Komitee, meist bestehend aus je einer Person mit ärztlicher, psychologischer und juristischer Expertise, herauszufinden: Wie problematisch ist der Konsum der Person, die mit Drogen erwischt wurde, wirklich? Ist der Konsument tatsächlich süchtig? Wie sind seine Lebensverhältnisse, ist er arbeitslos, erlebt er Gewalt in der Familie? Ist er einsam? „Wir konzentrieren uns auf den Menschen und nicht auf die Substanz, die er konsumiert“, sagt Nuno Capaz, Direktor und Gründer der Kommission für Drogenbekämpfung, im ICAD-Büro in Lissabon. „Wir reden auf Augenhöhe.“
Der Soziologe arbeitet seit mehr als 20 Jahren für das ICAD. Er stuft seine Klienten auf einer Skala von „low risk“ bis „high risk“ ein. Als „low risk“ gilt etwa, wenn jemand auf einer Party Ecstasy ausprobiert, aber gesunde Beziehungen führt, einen Job und eine Wohnung hat. „High risk“-Konsum zeichnet sich durch Regelmäßigkeit aus und geht oft mit Armut, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit einher. „Die meisten, die zu uns kommen, haben einen unproblematischen Konsum“, sagt Capaz. Für die „Low risk“-Konsument:innen ist die Sache nach einem Besuch des ICAD-Büros erledigt. „High risk“-Konsument:innen bekommen Kontakte zu Stellen, die langfristige Hilfe bieten, zum Beispiel Entzugskliniken oder Reha-Einrichtungen. Der Aufenthalt ist freiwillig. Wer sich dagegen entscheidet, darf sechs Monate lang nicht wieder mit Drogen erwischt werden, sonst wird er bestraft.
Kann Portugal ein Vorbild sein?
Offizielle Zahlen bescheinigen dem portugiesischen Modell große Erfolge: Seit der Gesetzesänderung im Jahr 2001 ist die Zahl der Drogentoten deutlich gesunken. 1999 starben in Portugal noch 369 Menschen pro Jahr durch Drogenkonsum, 2021 waren es 81 pro Jahr. Im EU-Vergleich stand 2022 Irland an der Spitze mit 97 Drogentoten pro Million Einwohner:innen, Portugal liegt dagegen im unteren Mittelfeld mit 11 Drogentoten, unter anderem hinter Österreich, den Niederlanden – und Deutschland. Hier gab es 2023 mit 26,5 Drogentoten pro Million Einwohner:innen die höchste Zahl, die in Deutschland jemals registriert wurde. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen.
Suchtexperten und Politiker überlegen deshalb immer wieder, ob das portugiesische Modell auch für Deutschland sinnvoll sein könnte. Burkhard Blienert (SPD), Drogenbeauftragter der Bundesregierung, sagte dieses Frühjahr in einem ZDF-Interview: „Bei uns – und auch in vielen anderen Ländern – wird der portugiesische Weg als zukunftsweisend angesehen. Ich kann dem ebenfalls sehr viel abgewinnen.“ Doch die Entkriminalisierung wäre mit „erheblichen Umbauten“ des Justizsystems verbunden, so Blienert in dem Interview.
Viele Wissenschaftler:innen sehen ebenfalls den Erfolg des portugiesischen Modells. Zu ihnen gehört der Psychologe Uwe Verthein vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg. Verthein untersucht mögliche Auswirkungen der Cannabislegalisierung und sagt: „Die Zahlen zeigen, dass das portugiesische Modell erfolgreich ist.“ Es könnte, findet der Experte, durchaus als Vorbild für die deutsche Drogenpolitik dienen. Denn gerade für Schwerstabhängige sei „harm reduction“ (Schadensminderung) wichtig – also Maßnahmen, die negative soziale, gesundheitliche und ökonomische Folgen von Drogenkonsum senken, beispielsweise der niedrigschwellige Kontakt zu Anlaufstellen. Dazu gehören laut Verthein zum Beispiel Drogenkonsumräume, Einrichtungen zum Spritzentausch oder Drug-Checking-Angebote, also Labore, in denen Konsument:innen ihre Drogen chemisch analysieren lassen können.
Ein Arzt leitete die Wende ein
Als Gründer des portugiesischen Drogenmodells gilt João Castel-Branco Goulão. Der Arzt leitete Ende der 1990er-Jahre das Netzwerk der portugiesischen Drogenbehandlungszentren und war Mitglied eines Komitees, das der Regierung eine neue Strategie vorschlug: die Entkriminalisierung aller Drogen.
„Damals herrschte in Portugal eine Drogenkrise“, erinnert sich Goulão. „Drogen waren in allen sozialen Schichten verbreitet.“ Es sei klar gewesen, dass die Regierung etwas tun musste. Gewalt und Kriminalität seien allgegenwärtig gewesen. „Wir haben ein Netzwerk für die Behandlung von Drogenabhängigen aufgebaut“, sagt er. So wurden Ärzt:innen und Sozialarbeiter:innen für die Arbeit mit Suchtkranken geschult. Eine starke Infrastruktur, die sich an der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert, sei der Erfolg des Modells gewesen.
In Deutschland gilt das, was in Portugal für den Konsum aller Drogen gilt, nur für Cannabis. Was hierzulande in den vergangenen Jahren hitzig diskutiert wurde, ist der Besitz und Anbau von Cannabis. Seit Juli dürfen in Deutschland Cannabis Social Clubs eröffnet werden – also nichtkommerzielle Vereine, deren volljährige Mitglieder ihr eigenes Cannabis anbauen und konsumieren dürfen. Auch Privatpersonen dürfen bis zu drei Pflanzen anbauen.
In Portugal gibt es keine solchen Clubs, der Verkauf von Drogen ist wie in Deutschland weiterhin nicht legal, obwohl man sie besitzen und konsumieren darf. Wer dort Cannabis kaufen will, muss es sich auf dem illegalen Markt besorgen. Der Handel mit Drogen wurde dort nicht entkriminalisiert. Uwe Verthein, der Wissenschaftler aus Hamburg, sieht genau darin die Schwäche des portugiesischen Modells. Denn auch wenn es in Portugal keine Strafen mehr für den Konsum gibt – die Konsumenten müssen ja irgendwie an den Stoff kommen.
Titelbild: Daniel Rodrigues/NYT/Redux/laif