Thema – Flucht

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„Wir halten ein System aufrecht, in dem Gefangenschaft, Folter und Mord an der Tagesordnung sind“

Wie wirkt sich die Migrationspolitik der EU auf Menschen aus, die aus Afrika nach Europa fliehen? Und wie berichten Medien darüber? Das haben wir die Journalistin Sally Hayden gefragt, die seit Jahren zu diesen Themen recherchiert

Inhaftierte Männer aus Eritrea in einer  Zelle in einem Haftzentrum in der Nähe von Gharyan, Libyen

Die irische Journalistin Sally Hayden berichtet weltweit über Flucht und Migration. 2022 veröffentlichte sie ihr Sachbuch „My Fourth Time, We Drowned“, das bisher nicht auf Deutsch erschienen ist. Darin beschreibt Hayden schwere Menschenrechtsverletzungen, die Geflüchtete auf dem Weg nach Europa, unter anderem in Libyen, erleben und fragt: Welche Rolle hat die Europäische Union bei alldem? – Themen, die auch im Jahr 2024 hochaktuell sind.

fluter.de: Sally Hayden, für Ihre Recherchen zu „My Fourth Time, We Drowned“ waren Sie viel in Afrika unterwegs. Das Buch beginnt aber mit einer Facebook-Nachricht von einem Mann, der 2018 im libyschen Ain-Zara-Haftlager mit Hunderten anderen Menschen festsitzt und durch ein verstecktes Smartphone mit Ihnen Kontakt aufnimmt. Welche Rolle spielt das Smartphone bei der Berichterstattung über Orte, zu denen Sie als Journalistin keinen Zugang haben?

Sally Hayden: Als Journalistin ist es natürlich am besten, vor Ort zu recherchieren und mit den Menschen direkt zu sprechen. Gleichzeitig kann es aber auch sein, dass man dadurch nur einen Teil mitbekommt, weil Menschen Angst haben, mit einem zu reden, oder man von den Behörden nur einen Teil gezeigt bekommt. Durch ein Telefon mit Leuten verbunden zu sein, kann noch mal eine neue Tür öffnen. Als mich die Menschen aus den Haftlagern in Libyen kontaktierten, habe ich sie nach GPS-Standorten, Fotos, Selfies und den Telefonnummern ihrer Familien gefragt. Es braucht Zeit, um herauszufinden, wer zuverlässig ist und wer nicht. Da ich viele Quellen in den Haftanstalten hatte, konnte ich die Infos immer wieder mit anderen Menschen abgleichen und gegenchecken.

„Die Menschen bekommen keine Anklage, keinen Zugang zu einem Anwalt und keine Möglichkeit, gegen ihre Inhaftierung Berufung einzulegen“

Welche Bedeutung hat das Smartphone für Menschen, die auf der Flucht sind?

Es ist für sie lebensnotwendig. Für Menschen im privilegierten Westen ist es oft schwer zu verstehen, dass ein Smartphone ein Lebensretter für Menschen auf der Flucht sein kann: Damit können sie herausfinden, wie die Fluchtroute verläuft, weil sie in der Wüste oder auf dem Meer einen Notruf absetzen oder ihre Familie damit kontaktieren können. Das Ambivalente am Smartphone ist, dass wir zwar überall nachverfolgen können, was auf der Welt passiert. Gleichzeitig aber auch immer wieder wegsehen, weil eine riesige Menge an Informationen jeden Tag auf uns einprasselt. Deshalb ist mein Buch auch ein Appell an die Menschen, nicht wegzusehen. Hätte ich diese ersten Facebook-Nachrichten ignoriert, hätte es die langjährige Berichterstattung zur Situation in den libyschen Haftlagern für Geflüchtete nicht gegeben.

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Eine Szene aus dem Jahr 2014, die sich im libyschen Subrata abspielt: Die 17-Jährige Jawaher aus Eritrea hat gerade vom Tod ihrer Mutter erfahren. Mutter und Tochter hatten zuvor, so der Bericht, versucht, per Boot über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Jawahers Mutter ertrank, als das Boot von der Polizei aufgegriffen wurde, Jawaher wurde festgenommen

In Ihrem Buch kritisieren Sie die Europäische Union scharf im Zusammenhang mit der Situation der Geflüchteten in Libyen. Welche Rolle spielt sie aus Ihrer Sicht?

Im Jahr 2017 begannen die EU und insbesondere Italien mit einer Umgehung des Völkerrechts, indem Menschen vom europäischen Territorium ferngehalten werden. Mithilfe von modernster Technik spürten die italienischen Grenzschützer Boote mit Geflüchteten auf und unterstützten die libysche Küstenwache dabei, diese Boote abzufangen. Nach internationalem Recht darf ein europäisches Schiff keine Menschen nach Libyen zurückbringen, also zahlte die EU dafür, dass die Libyer dies stattdessen tun. Laut der Internationalen Organisation für Migration und anderen Medienberichten wurden so in weniger als sieben Jahren mehr als 148.000 Menschen nach Libyen zurückgeschickt; also in einen von Milizen regierten Staat, wo sie oft auf unbestimmte Zeit in Haftzentren eingesperrt sind, in denen nachweislich gefoltert wird. Die Menschen bekommen keine Anklage, keinen Zugang zu einem Anwalt und keine Möglichkeit, gegen ihre Inhaftierung Berufung einzulegen. Unter ihnen befinden sich viele Kinder, die keine Schulbildung erhalten. Frauen, die nach Vergewaltigungen schwanger werden, müssen ihre Kinder oft ohne medizinische Hilfe in den Haftlagern zur Welt bringen.

Im Januar 2017 wurde bekannt, dass die deutsche Botschaft im Niger der damaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel eine diplomatische Korrespondenz geschickt hatte. Darin wurden die libyschen Haftanstalten für Flüchtlinge als Orte beschrieben, an denen „Exekutionen (…), Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste“ an der Tagesordnung seien. Die europäische Kooperation mit Libyen wurde aber nicht eingeschränkt. Wie erklären Sie sich das?

Ich spreche viel mit europäischen Politiker:innen und Beamt:innen, und häufig höre ich, dass es keinen Zweck hätte, menschenfreundlichere Regeln einzuführen – denn das hieße, dass die Politiker:innen bei der nächsten Wahl abgewählt würden. Sie sagen, die europäischen Wähler:innen seien gegen irreguläre Migration, vor allem aus Afrika. Deswegen müsse man schärfere Regeln einführen, weil ansonsten rechtsextreme Parteien immer mehr Macht bekämen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die europäischen Wähler:innen wirklich wissen, was in ihrem Namen getan wird – dass so ein System aufrecht gehalten wird, in dem Gefangenschaft, Folter, Mord und andere Formen des Missbrauchs an der Tagesordnung sind. Ich sehe meine Aufgabe darin, die europäische Öffentlichkeit darüber aufzuklären.

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Teile eines Boots am Strand des libyschen Orts Zuwara im August 2016. Nach Angaben von Einheimischen wurde das Boot zusammen mit vielen toten Menschen an Land gespült, die versucht hatten, damit nach Europa zu fliehen
 

Welche Rolle spielt Sprache für Sie, wenn es darum geht, über die Situation von Menschen auf der Flucht zu berichten?

Als Journalistin, die lange Zeit über dieses Thema berichtet hat, stelle ich bis heute immer wieder meine eigene Sprache infrage. Wenn ich in London am Schreibtisch sitze und schreibe „250 Migranten sterben im Meer“, dann ist für mich schon die Verwendung des Wortes „Migrant:in“ entmenschlichend. Es schafft Distanz und gibt einem das Gefühl, dass es sich hierbei um Menschen handelt, die nichts mit einem zu tun haben. Warum kann man hier nicht einfach von „Menschen“ sprechen? Migrant:in ist nur eine Beschreibung. Flüchtling ist ein rechtlicher Status. Am Ende des Tages sind alle Menschen nur Menschen. Und dass Folter, sexueller Missbrauch, Hunger und systematische Quälerei teilweise hinter dem Wort „Migrationsmanagement“ stehen können, ist vielleicht auch nicht allen bewusst.

Gibt es sonst noch Aspekte in der Berichterstattung, die Ihnen besonders auffallen oder die Sie gerne ändern würden?

Journalist:innen schreiben oft schnell und eher oberflächlich über dieses Thema, ohne die größeren Zusammenhänge zu erklären oder Stimmen von den Menschen einzuholen, die auf der Flucht sind. Den Kontext zu verstehen, ist aber sehr wichtig – etwa, dass gerade für die Menschen auf der Welt, denen es am schlechtesten geht, oft gar keine legalen Fluchtwege zur Verfügung stehen. Ich fände es außerdem wichtig, dass es mehr längerfristige investigative Recherchen zu diesem Thema gibt. Denn es braucht Zeit, bis man wirklich verstanden hat, wo genau die Gründe für das Versagen der Strukturen und Systeme liegen.

„Die EU schließt Deals mit autoritären Staaten und Milizen, um Menschen von Europa fernzuhalten, etwa mit Tunesien oder Ägypten“

2019 sagte die damals frisch gewählte Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, im Zusammenhang mit Menschen, die über das Mittelmeer fliehen: „Die Rechtsstaatlichkeit gilt uneingeschränkt, sie gilt für alle.“ Hat sich das bewahrheitet?

Leider nicht. Die EU ist weiterhin in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt, und das ist eine Situation, die wir nicht nur in Libyen beobachten können, sondern an den gesamten europäischen Außengrenzen. Es werden Deals mit autoritären Staaten und Milizen geschlossen, um Menschen von Europa fernzuhalten, etwa mit Tunesien oder Ägypten. Gleichzeitig kreiert man dadurch ein System der Unterdrückung und Gewalt, aus dem wieder mehr Menschen fliehen müssen. Dabei gab es in den vergangenen fünf Jahren auch interessante Entwicklungen. Fabrice Leggeri ist im April 2022 als Frontex-Chef zurückgetreten [nachdem Frontex nachweislich illegale Pushbacks der griechischen Küstenwache vertuscht hatte, Anm. d. Redaktion]. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob dieser Schritt weitere rechtliche Konsequenzen für Frontex haben würde. Schließlich bekommt die Agentur viel Geld von der EU [2005 betrug das Budget von Frontex noch sechs Millionen Euro, heute liegt es bei 922 Millionen Euro, Anm. d. Redaktion]. Doch das Budget wurde nicht eingeschränkt, und Leggeri trat dieses Jahr als Kandidat von Marine Le Pens rechtsextremem Rassemblement National für die Europawahlen an.

Haben Sie noch Kontakt zu Protagonist:innen aus dem Buch?

Nicht alle haben es geschafft. Einige sind zurück in die Länder, die sie ursprünglich mal verlassen haben, manche sitzen noch immer in Libyen fest, andere sind in Europa gelandet. Heute spreche ich weniger mit den Menschen als früher, auch weil viele von ihnen mit ihrem Leben vorankommen wollen, dabei sind, eine neue Sprache zu lernen, Arbeit zu finden und nicht mehr in der Vergangenheit zu wühlen. In Schweden habe ich letztens ein Paar getroffen, das sich in Libyen kennengelernt hat und vor kurzem ein Baby bekam. Es gibt schöne Momente, Hochzeiten und Taufen, an denen man sieht, dass das Leben weitergeht. Gleichzeitig haben viele Menschen auch psychische Narben. Sie können nicht gut schlafen, haben Probleme, in Europa anzukommen. Auch der Rassismus spielt hier eine große Rolle. Ein Mann, der nach Schweden geflüchtet ist, Schwedisch gelernt hat und Arbeit in einem Seniorenheim fand, erzählte mir, dass jemand mal hinter ihm auf Schwedisch gesagt hat: „Halten Sie sich von ihm fern, er ist gefährlich und könnte ein Dieb sein.“ Danach, erzählte er mir, sei er nach Hause gegangen und habe geweint.

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Sally Hayden (Foto: Guy Peterson)
(Foto: Guy Peterson), CC BY 4.0

Sally Hayden, Jahrgang 1989, hat Jura und Politik studiert und lange als Afrika-Korrespondentin der „Irish Times“ gearbeitet. Sie schreibt für internationale Medien und hat für ihre journalistische Arbeit zahlreiche Preise gewonnen. 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.