Thema – Gender

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Lass raus!

Wut ist eine Emotion, die Frauen von klein an abtrainiert wird. Dabei hätten sie ja allen Grund dafür. Unsere Autorin macht sich auf die Suche nach ihrer eigenen Wut

Wut Illustration

Hinter mir lag ein Kneipenabend mit Freundinnen, den man bedenkenlos als „heavy“ beschreiben kann: Eine von uns hatte Machtmissbrauch auf der Arbeit erlebt. Bis in die Nacht erzählte die Freundin von den verbalen Übergriffen ihres Chefs, den von der Firma gezogenen Konsequenzen (nämlich kaum spürbaren) und davon, wie sehr sie das alles belaste. Wir anderen fühlten mit, trösteten, gaben Rat. Bei der Verabschiedung hielten wir uns etwas länger als üblich im Arm und wankten dabei von einem Bein auf das andere. 

Auf dem Heimweg dann fühlte ich mich noch unbehaglicher als vorher. Etwas Knotenartiges lag mir auf der Brust: Wo war an diesem Abend, überlegte ich, eigentlich die Wut geblieben? Wir hatten unsere Anteilnahme mit Mitgefühl und blasser Traurigkeit ausgedrückt. Dabei hätten die Geschehnisse doch allemal triftige Gründe geboten, mit den Fäusten auf die Theke zu hämmern? Hätte das, zumindest kurzfristig, nicht als viel besseres Ventil für die Schwere getaugt?  Überhaupt, so kam es mir auf einmal vor, waren wir, wenn es einen Anlass gab, kaum wütend, sondern enttäuscht, betrübt oder frustriert. Vielleicht passt Wut ja auch einfach nicht zu mir? Schließlich mag ich meine Fähigkeit, Ruhe zu bewahren.

Meine Wut passt nicht zu dem, was gesellschaftlich vom Bild der Frau erwartet wird, nämlich lieb, höflich und angepasst zu sein

Aber dass ich nun nicht mal mehr zu wissen schien, wie sich meine Wut überhaupt anfühlt, besorgte mich. Und so ließ mich das Wut-Thema auch in den Tagen darauf nicht los. Gebannt schaute ich Serien mit vor Wut rasenden Frauen in der Hauptrolle und hörte „Female rage“-Playlisten zum Abreagieren. Getrieben von einer Art, ich möchte fast sagen quälender Sehnsucht nach einem mir unerforschten Gefühl, entschied ich, mich damit auseinanderzusetzen: mit weiblicher, ja, mit meiner eigenen Wut.

Wut ist eine Emotion, die Mädchen von klein an abtrainiert wird. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen das, und auch die eine oder andere persönliche Erfahrung deutet stark darauf hin: Meine Wut passt nicht zu dem, was gesellschaftlich vom Bild der Frau erwartet wird, nämlich lieb, höflich und angepasst zu sein. Frauen müssen im Alltag bangen, für ihre Wut abgewertet oder angegriffen zu werden. Studien zufolge resultiert daraus, dass sie ein „negatives“ Gefühl oft in einer gesellschaftlich kompatibleren Form äußern: in Traurigkeit, Ängstlichkeit oder Frust – obwohl sie eigentlich Wut empfinden.

Emotionen passieren nicht einfach so. Wir konstruieren sie. Dass sie über uns aufziehen wie Gewitterwolken und wir ihnen schlicht unterliegen, ist nach aktuellem Stand soziologischer Forschung ein Irrglaube: Vielmehr bestimmen Hierarchien, soziale Klasse, Status und Machtstrukturen, wie sich eine Person und somit auch ihre Emotionen verhalten. Das schreibt etwa die Verhaltenswissenschaftlerin Dr. Pragya Agarwal in ihrem Buch „Hysterical – Exploding the Myth of Gendered Emotions“.

Wer jahrelang seine Emotionen unterdrückt, dem kann das auf die Gesundheit schlagen, etwa in Form von Bluthochdruck, Depression oder Angstzuständen

Strukturell bedingt schlucken Frauen demnach mehr Wut herunter als Männer. Und wer jahrelang seine Emotionen unterdrückt, so wurde nachgewiesen, dem kann das auf die Gesundheit schlagen, beispielsweise in Form von Bluthochdruck, Depression oder Angstzuständen. Menschen, die ein weniger kontrolliertes Verhältnis zu ihrer Wut haben und diese nicht runterschlucken, seien hingegen optimistischer, selbstbewusster und kreativer. 

Während ich das alles lese, werde ich ziemlich sauer. Ideal! Denn meine Wut soll ohnehin hochgekitzelt werden: Ich bin nämlich gerade auf dem Weg zu einem sogenannten Breath-Work-Kurs. Dort sollen Gefühle erst gefühlt und dann ausgeatmet werden. Laut Kursbeschreibung sollen so emotionale Blockaden gelöst werden können. Primär durch Atmung, aber gegen Ende wohl auch durch ordentlich Gebrüll, erzählte mir meine Freundin, die schon mal dort war.

Etwa 50 Teilnehmer:innen, überwiegend Frauen, haben sich auf Yogamatten ausgebreitet. Zu düsteren psychedelischen Beats atmen wir über eine halbe Stunde durch den Mund, wir stoßen die Luft regelrecht aus. Wir pusten, stöhnen, rasseln mit geschlossenen Augen vor uns hin. Nachdem der Kursleiter dazu angeregt hat, fangen die Ersten an zu schreien. „Lasst jetzt alles raus, was feststeckt!“, feuert Martin auf Englisch an. 

Im Breath-Work-Kurs schreie ich wie am Spieß. Mal ganz tief unten aus dem Bauch heraus, mal schrill aus der Kehle. Danach bin ich erleichtert und klarer in meinen Gedanken. Durchzug!

Ich schreie wie am Spieß. Mal ganz tief unten aus dem Bauch heraus, mal schrill aus der Kehle. Je länger ich brülle, desto mehr Gründe zum Wütendsein schießen mir in den Sinn: niedrigere Gehälter, unbezahlte Care-Arbeit, 70 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sind Frauen, Endometriose-Erkrankungen, der Ex meiner Freundin, der sie zur Abtreibung drängt. Danach bin ich tatsächlich erleichtert und klarer in meinen Gedanken. Als hätte man nach einem langen Winter mit Schwung alle Fenster aufgerissen und den abgestandenen Muff hinauszirkuliert. Durchzug! Viele der Frauen, erfahre ich nach dem Kurs im Umkleideraum, kommen regelmäßig hierher.

Ein paar Tage später spreche ich mit Soraya Chemaly über das Buch „Speak out! Die Kraft weiblicher Wut“. Im Zoom-Call erzähle ich ihr von meinem Frust darüber, zu lesen, dass wir nach wie vor unseren Status und unsere Beziehungen riskieren, wenn wir Wut zeigen. Tut sich denn da gar nichts?, frage ich in das Zoomkästchen hinein.

„Doch“, antwortet Chemaly in ihrem Arbeitszimmer an der US-Ostküste. „Frauen verstehen in den letzten Jahren immer mehr, dass sie wütend sind, und werden mutiger, das auszusprechen.“ Auch durch den Hashtag-Aktivismus haben viele Frauen „Aha-Momente“ in Bezug auf ihre Wut erlebt und festgestellt, dass sie mit der inneren Verzwickung, ein Gefühl, das sie spüren, runterschlucken zu müssen, nicht allein sind. Davon, dass weibliche Wut akzeptiert ist, seien wir allerdings noch weit entfernt. „Solange sich der alte Mythos von emotionalen Frauen und rationalen Männern weiter aufrechterhält, bin ich da wenig optimistisch“, sagt Chemaly.

Wie können wir mit dieser Erzählung brechen? „Wir sollten wachsam sein, wie wir untereinander mit Wut umgehen. Und uns bewusstmachen, wie stark weiterhin die Tendenz dazu ist, Frauen zum Ruhig- oder Kleinsein zu bewegen.“ Begegnet uns am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Privaten ein wütendes Mädchen oder eine wütende Frau, sollten wir ihr signalisieren: „Das ist normal! Sei du selbst.“ Wir können sie fragen, welchen Grund ihre Wut hat, anstatt unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass sie wütend ist, zu lenken. Diese Reaktion sei sehr kontraproduktiv, aber leider häufig zu beobachten, sagt Chemaly.

„Resting Bitch Face“ oder „hysterisches Verhalten“ – es gibt so einige fiese Begriffe, die weibliche Wut stigmatisieren. Neue Begriffe wären schön, die unsere Wut als etwas Mutiges, Befreiendes strahlen lassen

„Resting Bitch Face“ oder „hysterisches Verhalten“ – es gibt so einige fiese Begriffe, die weibliche Wut stigmatisieren und sogar dazu führen können, dass sich Frauen gegeneinander aufhetzen. Begriffe prägen uns: Idealerweise entwickeln wir positive Begriffe für unsere Wut und vermeiden jene, die uns das konservative Patriarchat auferlegt, überlege ich. Begriffe, die unsere Wut als etwas Mutiges, Befreiendes, Gesellschaftsrelevantes strahlen lassen, wären schön. Vielleicht ermöglicht es uns, konstruktiver miteinander zu verhandeln.

Ein paar Tage später bin ich auf einer Demo gegen Rechtsextremismus. Gemeinsam mit anderen rufe ich Parolen. Erst fühlt es sich ungemütlich an. Meine eigene Stimme in der Öffentlichkeit zu hören und dann auch noch so laut, löst ein Schamgefühl in mir aus. Es kostet mich Überwindung, meine Lautstärke zu halten, nicht immer wieder leiser zu werden. Dann schaue ich mich in der Menschenmenge nach anderen Frauen um. In ihrer Wut wirken sie aufgebracht und vernünftig, kampflustig und sanft, beängstigend und wunderschön.

Wut überrascht. Und sie kann unsere weiblichste und kraftvollste Eigenschaft sein. Ich schaue wieder nach vorne, lege meine Hände wie einen Trichter an meine Lippen und schreie laut dem Wind entgegen.

Illustration: Frank Höhne

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.