Gehen oder bleiben? Diese Frage stellen sich junge Ostdeutsche häufig nach ihrem Schulabschluss. Und nach wie vor entscheiden sich viele von ihnen für den Umzug in den Westen. Im Jahr 2023 wanderten mehr 18- bis 29-Jährige von Ost nach West als umgekehrt (7.100 Personen). Insgesamt sind damit seit 1991 rund 727.000 Ostdeutsche im Alter von 18 bis 29 in westdeutsche Bundesländer gezogen. Das geht aus aktuellen Daten des Statistischen Bundesamts hervor. Expert:innen erwarten, dass sich der Trend in den kommenden Jahren verstärkt und zu Problemen auf dem Arbeitsmarkt führen wird.
„Ich spüre hier einen besonderen Zusammenhalt“
Ich fühle mich als Ossi. Ich bin in Pulsnitz geboren und aufgewachsen. Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Dresden. Mir gefällt es hier total gut. Für mich stand es daher nie zur Debatte wegzugehen. Auch weil ein Großteil meiner Familie und Freunde hier wohnt.
Es gibt hier im Osten viele schöne Traditionen. Zum Beispiel dieser ganze Kult um Trabis und Simson-Mopeds. Ich bin selber auch in der Jugend mit der Simson gefahren. Und ich spüre hier auch einen besonderen Zusammenhalt. Unter Nachbarn hilft man sich ganz selbstverständlich. Mit dem Bild, das die Medien zeichnen, hat das nicht viel zu tun. Davon fühle ich mich angegriffen. Denn ich erfülle gleich zwei Klischees: Ich komme aus Sachsen und vom Land. Viele denken, wir haben keinen Schimmer von irgendwas, aber ich sehe das anders. Viele sagen, dass Sachsen eines der anspruchsvollsten Abiture in Deutschland hat. Mit dem Klischee vom „dummen Ossi“ kann ich deshalb rein gar nichts anfangen.
Natürlich haben wir auch Probleme, aber wo gibt es die nicht. Eins davon: zu wenig öffentliche Jugendarbeit im ländlichen Raum. Daran möchte ich etwas ändern. Das schaffe ich nicht, wenn ich nur zu Hause sitze und Trübsal blase. Da muss man die Hände zusammenschlagen und sagen: So, jetzt geht’s los. Deshalb habe ich in Dresden auch ein Studium der Sozialen Arbeit angefangen. Ab dem kommenden Jahr werde ich meinen Master beginnen.
Soraya, 21, Pulsnitz
„Leute im Westen sollten wissen, was die Treuhand war“
Gehen oder bleiben? Für mich ist das ein großer innerer Konflikt. Einerseits fühle ich mich schlecht, hier alles zurückzulassen, andererseits bin ich mittlerweile an dem Punkt, dass ich mir eine Zukunft in Sachsen nicht mehr vorstellen kann. Der Rechtsruck ist einer der Gründe dafür. Durch mein Sonderpädagogikstudium setze ich mich viel mit Inklusion auseinander. Wenn ich darüber nachdenke, in Sachsen als Lehrerin zu arbeiten, mache ich mir Sorgen – vor allem darüber, dass in diesem Bereich in Zukunft Gelder gekürzt werden. In meinem Studiengang geht es vielen genauso. In meinem Umfeld hat kaum jemand das Referendariat in Sachsen angefangen.
In die Zukunft blicke ich mit Sorge. Die Unzufriedenheit im Osten ist groß, vor allem bei den Älteren. Viele Leute fühlen sich nicht gesehen. Um daran etwas zu ändern, hilft es nicht, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Wir brauchen eine bessere Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und ihrer Folgen. Leute im Westen sollten wissen, was die Treuhand war. Dann gäbe es vielleicht auch mehr Verständnis füreinander.
Viele im Osten haben das Gefühl, abgehängt zu sein. Dahinter stecken etliche Einzelschicksale. Auch bei mir zu Hause war das Erbe der DDR häufig Thema. Mein Opa ist nach der Wende arbeitslos geworden. Das hatte krasse Auswirkungen auf meine Familie. Wir müssen diese Geschichten hören, dann können wir uns vielleicht auch wieder auf einer Ebene begegnen.
Elina, 26, Leipzig
„Diese Entwicklung in Sachsen ist mir total peinlich“
Ursprünglich komme ich aus Demitz-Thumitz, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bautzen. Ich bin sehr behütet aufgewachsen. Wir hatten einen großen Garten, in dem wir Fußball spielen konnten. Jeder kennt jeden und man grüßt sich. 2020 bin ich dann nach Dresden gezogen. Für mich die schönste Stadt Deutschlands.
Der Osten ist meine Heimat. Ich lebe gerne hier, verstehe mich auch als Ostdeutscher. Was mich allerdings stört, sind die politischen Ansichten vieler Menschen. In meinem Dorf hat jeder Zweite rechtsextrem gewählt. Vor einiger Zeit war ich mit Freunden auf einem Festival. Auf dem Campingplatz hat uns ein Typ den Hitlergruß gezeigt und aufgefordert zurückzugrüßen. Diese Entwicklung in Sachsen ist mir total peinlich. Dabei hat Ostdeutschland eigentlich so viel zu bieten. Vor allem das familiäre Miteinander, das sicher noch aus der DDR-Zeit kommt.
Damals ist ein besonderes Wir-Gefühl entstanden, dass sich heute auch noch im Engagement vieler Ostdeutscher zeigt: bei Sportturnieren, in der freiwilligen Feuerwehr oder im Jugendclub. Vieles davon passiert selbstlos und aus reiner Zuneigung zur Heimatregion. Auch in der Nachbarschaft hilft man sich aus, wenn es Probleme gibt.
Doch leider nimmt dieser Zusammenhalt immer mehr ab. Das merke ich auch in meiner eigenen Familie. Während der Pandemie war ein Teil fürs Impfen, der andere dagegen. Das hält bis heute an. Inzwischen habe ich zu manchen Verwandten nur noch eingeschränkten Kontakt.
Lennart, 23, Dresden/Demitz-Thumitz
„Leider wurde ich auch mit Rassismus konfrontiert“
Ich bin in Kenia aufgewachsen und 2019 zum Studium nach Greifswald gezogen. Vorher habe ich mir wenig Gedanken über die Situation vor Ort gemacht. Mein Start in Greifswald war auch erst mal sehr positiv. Eine lebendige Stadt mit vielen Studierenden. Ich habe mich schnell eingelebt und Kontakte geknüpft. Aber leider wurde ich auch mit Rassismus konfrontiert – beim Busfahren, auf der Straße oder auf Stadtfesten. Einmal hat mir eine Verkäuferin in einem Lebensmitteldiscounter Diebstahl vorgeworfen. Das kam total aus dem Nichts und war definitiv meinem Aussehen geschuldet. Auf solche Situationen war ich nicht vorbereitet. Meine Freunde waren danach eine wichtige Stütze.
Nach den Kommunalwahlen in Greifswald im Juni haben wir im Freundeskreis gescherzt, wann wir endlich wegziehen. Das war lustig gemeint, hatte aber doch einen ernsten Kern. Ich werde jetzt auch tatsächlich erst mal zurück nach Kenia gehen. Ein halbes Jahr will ich dort sein, hauptsächlich, um meine Familie wiederzusehen. Ich will die Zeit aber auch nutzen, um mir Gedanken über meine Zukunft in Deutschland zu machen. Nach Greifswald werde ich nicht zurückkehren. Dennoch habe ich den Osten noch nicht komplett abgeschrieben. Aber falls ich noch mal herziehe, dann in eine Stadt mit mehr Internationalität – ein Ort, an dem ich mich sicherer fühle.
Jada, 24, Greifswald
„Unsere Mütter wurden zur Unabhängigkeit erzogen. Das schätze ich sehr“
Mein Leben spielt sich aktuell zwischen meiner Studienstadt Halle und meinem Heimatdorf in Ostsachsen ab. Dort lebe ich in der vorlesungsfreien Zeit. Ich hätte mir nicht vorstellen können, mehr als zwei Stunden Autofahrt wegzuziehen. Mein kleines Heimatdörfchen würde ich zu schnell vermissen. Ich bin eher introvertiert und brauche mein gewohntes Umfeld. Und ich mag es, in Ostdeutschland zu leben. Ich denke, dass gerade unsere Mütter zur Unabhängigkeit erzogen wurden. Sie haben uns mitgegeben: Verlasst euch nicht auf den Mann oder darauf, nur Hausfrau und Mutter zu sein. Das schätze ich sehr.
Ich merke hier einen großen Unterschied zwischen Stadt und Land. In meinem Heimatdorf ist Politik eher Nebensache. Da wird, wenn man anderer Meinung ist, dann oft gesagt: Lass uns nicht weiter darüber reden. In Halle werden die Konflikte vehementer ausgetragen. Da kommen unterschiedliche Menschen zusammen – vom linken Aktivisten bis zum radikalen Protestwähler. Da knallt es auch öfter mal. Letztens bin ich an einer Demo vorbeigelaufen, bei der es auch zu Handgreiflichkeiten kam. Da war ich total froh, dass ich die nächste Bahn erwischt habe. Ich glaube, ein Mittelweg wäre das Beste. Man sollte miteinander im Gespräch bleiben, aber auch wissen, wann man lieber das Thema wechselt.
Melinda, 22, Halle/Pulsnitz
Titelbild: Renke Brandt, Portraits: privat