„Wir müssen erst mal in die Analyse gehen.“
fluter.de: Eine klassische Wahlabend-Phrase. Welche Taktik verfolgen die Politikerinnen und Politiker am Wahlabend in ihrer Kommunikation?
Falk Tennert: Politische Kommunikation ist hochgradig ritualisiert und schablonisiert. Das zeigt sich auch am Wahlabend. Wenn um 18 Uhr die Wahllokale schließen und die ersten Prognosen und Hochrechnungen eintreffen – das ist eine Phase von hoher Unsicherheit. Journalisten stellen dann schnell die Frage: Wie ist das einzuordnen? Da legen sich Politikerinnen und Politiker nicht fest. Das ist strategisch, sie bleiben auf einer allgemeinen Ebene, zeigen Freude oder Enttäuschung, wenn es gemessen an den Erwartungen deutlich nach oben oder unten ging. Das sind die üblichen Kommunikationsmuster, um auch die journalistischen Regeln zu bedienen: Es gibt eine Frage, man muss darauf reagieren. Das ist so früh am Wahlabend nicht ganz einfach. Denn dieser Abend ist auch das Ende des monatelangen Wahlkampfs. Da zeigt sich also, ob die Strategie aufgegangen ist oder nicht. Schuldzuweisungen verbieten sich, denn das wäre ein Verriss an der eigenen Strategie und vielleicht am Spitzenkandidaten oder der -kandidatin.
Man könnte aber doch meinen, es wäre möglich, sich auf alle möglichen Szenarien inhaltlich gut vorzubereiten.
Das machen die Politikerinnen und Politiker natürlich auch. Durch Stichtagsbefragungen am Wahltag und Hochrechnungen weiß man ja auch schon, in welche Richtung es etwa geht. Da kann man Kommunikationsroutinen bereitlegen. Für eine tiefe Analyse ist aber in der Wahlberichterstattung gar keine Zeit. Das geht so: Schalte in Wahlzentrale A, Interview, Schalte in Wahlzentrale B, Interview, Hochrechnung. Wir haben das in unserer Forschung gemessen: Die ersten Interviews und Statements nach den Hochrechnungen sind zwischen 15 und 40 Sekunden lang. Da kann ich mich bei den Wählern und der Partei bedanken, noch den Satz mit der Analyse sagen, dann ist die Zeit vorbei.
„Ich möchte mich zunächst einmal bei allen Wählern und Wählerinnen bedanken, die meiner Partei erneut ihr Vertrauen gegeben haben, außerdem bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Partei, die gerade in den letzten Tagen einen großartigen Wahlkampf hingelegt haben.“
Hört sich dann in etwa so an. Was bringt das ganze Tamtam überhaupt?
Eine Wahl ist ein soziales Ereignis, und das will interpretiert werden. Es ist wie beim Fußball. Wenn es vier zu eins für Spanien steht, will ich nicht nur wissen, dass Spanien führt, sondern auch, warum. Das numerische Ergebnis muss sozial und politisch eingeordnet werden: Was bedeuten diese Zahlen? Wer ist tatsächlich Gewinner oder Verlierer? Wenn eine Partei bei der letzten Wahl acht Prozent hatte und dieses Mal zwölf hat, kann sie sich als Gewinner sehen, obwohl sie wahrscheinlich in der Opposition landen wird. Andererseits kann eine mögliche Regierungspartei, die deutlich unter den Erwartungen bleibt, als Verlierer hervorgehen. Wie das alles zu sehen und zu bewerten ist, muss ausgehandelt werden. Beim Fußball würde man auch fragen: War die Taktik gut? War die Besetzung gut? Hat der Trainer einen guten Job gemacht?
„Wir werden uns jetzt in den Gremien zusammensetzen und das Ergebnis erst mal in Ruhe auswerten müssen.“
Der Verweis auf die Gremien deutet aber schon an, dass man sich auch inhaltlich noch mit den Wahlergebnissen befassen wird.
Die tatsächliche Auswertung der Wahl vollzieht sich nachgelagert. Die Parteien schauen sich sehr genau an: Wie viele Wähler sind verloren gegangen? Wo sind die hingegangen? Womit waren sie zufrieden oder unzufrieden? Welche sozialen Gruppen haben wir angesprochen? Am Wahlabend kann man das so schnell gar nicht alles leisten. Und ohne das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit werden andere Konsequenzen gezogen und gegebenenfalls auch eingestanden, dass man nicht die richtigen Themen gesetzt oder auf den falschen Kandidaten gewettet hat. Dann gibt es auch noch die wissenschaftliche Bilanz, die kommt zwei oder drei Jahre später. Da analysieren Politikwissenschaftler das Wahlgeschehen sehr genau.
Wie unterscheidet sich die Kommunikation des Gewinners von der des Verlierers am Wahlabend?
In der Sozialpsychologie gibt es die sogenannte Attributionstheorie. Sie analysiert, was Menschen als Ursachen für Ereignisse benennen. Ein Beispiel: Student X fällt durch eine Klausur. Was ist die Ursache? Der Student wird eher sagen, die Klausur war zu schwer, der Dozent doof und so weiter. Das nennen wir Externalisierung. Schreibt er eine gute Note, wird er nicht von Glück sprechen, sondern sich auf die Schulter klopfen und sagen: Das hab ich toll gemacht. Das ist die Internalisierung. So ist es auch in der politischen Kommunikation am Wahlabend. Gewinner werden internalisieren und sagen: Richtige Themen, richtiger Kandidat. Verlierer externalisieren: Das Hochwasser, unglückliche Umstände, der Wähler hat es nicht verstanden. Das ist ein ganz menschlicher Mechanismus, um den Selbstwert zu schützen.
„Natürlich hätte ich mir ein besseres Ergebnis erhofft.“ „Das war ein herber Verlust für unsere Partei.“ „Ein einfaches ‚Weiter so‘ kann es jetzt nicht geben.“
Nur dass man schlecht den Wählerinnen und Wählern die Schuld geben kann. Das würde wahrscheinlich nicht so gut ankommen.
Das ist in der politischen Kommunikation eine Besonderheit. Privat kann ich stark externalisieren. Das geht im öffentlichen Diskurs nicht gut. Da muss ein bisschen Asche aufs Haupt. Es heißt dann eher: Wir konnten unsere Politik nicht so gut vermitteln, hatten nicht die richtige Strategie. Das ist der sogenannte Seriositätsdruck.
Was, wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin das Ergebnis des Gegners interpretieren soll?
Da kehrt sich diese Logik um, da geht es wieder um Selbstwerterhalt. Dann werde ich nicht sagen: Die waren halt gut, starker Kandidat. Sondern: Die hatten eben Glück, die Umstände haben ihnen in die Karten gespielt.
„Die Wähler haben uns einen klaren Auftrag gegeben.“
Was ist dran an dieser Phrase?
Das werden sie oft und von vielen Parteien hören. Und es stimmt: Der Wähler hat sein Votum abgegeben und sich damit für seine Partei oder eine Koalition, die ein Regierungsbündnis bilden soll, ausgesprochen. Aber ob die aggregierten Stimmen – also die Koalition, die dann entsteht – tatsächlich der klare Auftrag des Wählers sind? Ich glaube nicht. Dahinter stehen sehr unterschiedliche Milieus und Weltanschauungen. Das kann meiner Meinung nach kein klarer Auftrag sein. Deshalb schließen Parteien vorher üblicherweise Koalitionen mit bestimmten Partnern aus oder streben diese explizit an, um ihre Wähler nicht zu verprellen. Manchmal klappt das besser und manchmal eben nicht.
GIFS: Renke Brandt