Wenn Helena Steinhaus aus dem Fenster schaut, fällt ihr Blick auf eine Bürohausfassade mit Drehtür. Darüber steht: „Jobcenter Berlin Neukölln“. Es ist zwölf Uhr mittags, Menschen mit Anträgen oder Mappen in der Hand gehen hier ein und aus. Allein im Berliner Stadtteil Neukölln beziehen rund 20.000 Menschen Hartz IV; dazu kommen mehr als 17.000 Kinder unter 15 Jahren – so genannte nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte –, die mit den Hartz-IVBeziehenden in einer Bedarfsgemeinschaft leben und Sozialgeld erhalten.
Es ist Zufall, dass Steinhaus’ Büro hier liegt, aber es passt ganz gut. Denn sie arbeitet für den Verein „Sanktionsfrei“, der das Hartz-IVSystem verändern will. Steinhaus und ihre Mitstreitenden setzen sich dafür ein, dass vor allem die Strafen für Menschen, die Jobs nicht annehmen oder Termine verpassen, wegfallen. „Hartz IV zu bekommen klingt so, als hätte man eine Krankheit“, sagt die 34-Jährige. Sie weiß, wovon sie spricht: Nach ihrem Studium der Kulturwissenschaften war sie insgesamt ein Jahr arbeitssuchend, kellnerte und bezog Arbeitslosengeld II, wie Hartz IV auch heißt. „Wenn ich morgens zu einem Termin ins Jobcenter musste, war der Tag danach gelaufen“, sagt sie. Der Druck, den sie nach jedem Jobver mittlungsgespräch spürte, habe sie deprimiert. Dazu kam die Angst, das Geld gekürzt zu bekommen, wenn sie eine angebotene Stelle nicht wollte.
Reichen 446 Euro pro Monat zum Leben?
Aktuell erhalten Alleinstehende 446 Euro pro Monat zum Leben (ohne Unterkunft und Heizung). 2022 steigt dieser Satz um drei Euro auf 449 Euro. Vor allem Sozialverbände kritisieren sowohl die Höhe der Leistungen als auch die minimalen Steigerungen. Für Steinhaus ist aber die Sanktionierung das Kernproblem. Bis zu 100 Prozent der Leistungen konnten gekürzt werden, wenn man beispielsweise zum wiederholten Male einen Termin beim Amt verpasst oder einen angebotenen Job ablehnt. Im äußersten Fall konnten die Sozialleistungen sogar ganz wegfallen.
2019 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass manche Sanktionen zum Teil verfassungswidrig sind, weil sie das Existenzminimum unterschreiten. Laut dem Gericht dürften Hartz-IV- Empfangenden nur noch bis zu maximal 30 Prozent abgezogen werden. Obwohl auf dem Urteil basierend noch kein neuen Gesetz erlassen worden ist, gilt eine Übergangsregelung nach der Sanktionen von mehr als 30 Prozent faktisch nicht mehr möglich sind.
„Sanktionen führen meistens eher dazu, dass sich Menschen unter Androhungen in Jobs pressen lassen, dann aber drei Monate später wieder im Jobcenter landen“, sagt Steinhaus. Tatsächlich finden viele Vermittelte häufig nur im Niedriglohnsektor einen Job und müssen dann mit Hartz IV aufstocken.
Auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, ist davon überzeugt, dass Sanktionen kontraproduktiv sind. Stattdessen müssten prekäre Beschäftigungsverhältnisse abgeschafft und ein höherer Mindestlohn sowie mehr Angebote für Kinderbetreuung eingeführt werden.
„Man bräuchte zusätzlich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die zu den Menschen nach Hause gehen und sie individuell in ihrer Lebensphase unterstützen. Es muss mehr gefördert und weniger gefordert werden“, sagt Fratzscher. Wie das aussehen könnte, zeigt das Pilotprojekt „Solidarisches Grundeinkommen“ in Berlin. Alle 1.000 teilnehmenden Langzeitarbeitslosen bekommen dabei einen unbefristeten Vollzeitjob, der mit dem Mindestlohn vergütet wird. Allerdings sind nur gemeinwohlorientierte Tätigkeiten erlaubt.
Fünf Millionen Menschen beziehen aktuell Hartz IV
„Fordern und Fördern“ lautet der Grundgedanke des Hartz-IV-Gesetzes, das zum 1. Januar 2005 in Kraft trat. In ganz Deutschland beziehen heute fünf Millionen Menschen diese finanzielle Unterstützung vom Staat (dazu zählen rund 1,4 Millionen Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre). Nicht alle sind arbeitslos, doch die meisten leben an der Armutsgrenze und brauchen zusätzlich zum Job staatliche Hilfe.
„Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“ lautete die Ansage des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2001. Noch heute hält sich das Vorurteil hartnäckig, Hartz-IVBeziehende seien faul und wollten nicht arbeiten. Laut einer ForsaUmfrage vom März 2020 glauben 51 Prozent der Bevölkerung, dass Menschen, die von Hartz IV leben, „nichts Richtiges zu tun hätten“. 31 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Hartz-IV-Beziehende gar nicht arbeiten wollen.
Diese Stigmatisierung hat Helena Steinhaus selbst erlebt. Ihre Mutter war alleinerziehend und hat nach einem Burnout ihre Arbeit als Erzieherin aufgegeben. Um Hartz IV zu bekommen, müssen Antragstellende nachweislich hilfsbedürftig sein, sich also nicht mit ihren eigenen finanziellen Mitteln existenziell absichern können. Schon mit 17 lernte Helena Steinhaus daher, wie man einen Hartz-IV-Antrag ausfüllt, was eine „Bedarfsgemeinschaft“ ist, was sich hinter „Vermittlungshemm nissen“ verbirgt und vor allem, wie sich Sanktionen anfühlen.
Der Verein „Sanktionsfrei“ fordert eine Grundsicherung von 600 Euro
„Sanktionsfrei“ plädiert dafür, dass alle Bedürftigen eine Grundsicherung von mindestens 600 Euro erhalten – ohne Leistungskürzungen. Es brauche ein System, das die Menschen unter stütze, ihnen Mut mache, heißt es auf der Kampagnen-Website. Dazu gehöre auch eine Reform der Jobcenter, findet Steinhaus. Ihr Wunsch: „Idealerweise soll man mit einem guten Gefühl zum Jobcenter gehen, weil man weiß, dass einem dort geholfen wird.“
Die neue Bundesregierung verspricht, Hartz IV durch ein „Bürgergeld“ zu ersetzen. „Das klingt für mich nur wie eine kosmetische Anpassung“, sagt Helena Steinhaus. „Das Festhalten an den Mitwirkungspflichten heißt, dass Sanktionen bleiben.“ Für sie steht fest: Nur wenn der Regelsatz deutlich erhöht, Sanktionen abgeschafft sowie Energiekosten ausnahmslos übernommen werden, könnte ein solches Bürgergeld tatsächlich vor Armut schützen. Hartz IV kann es nicht.
Illustration: Wolfgang Wiler