Im Mai 1951 schickte der dänische Staat ein Schiff nach Grönland. Die „M/S Disko“ soll 22 Kinder holen, alle zwischen vier und acht Jahren, und nach Dänemark bringen. Dort sollen sie zu einer Elite erzogen werden, die der dänischen Kolonie Grönland aus Armut und Rückständigkeit hilft. Dänemark wollte die Kinder zu „besseren Menschen“ machen – also zu Dänen – und nahm ihnen dafür ihre Familien, ihre Sprache und ihre Heimat.
Das koloniale Experiment wurde nach einem Jahr abgebrochen: Das zuständige Ministerium in Kopenhagen verlor schnell das Interesse. Die Kinder kamen zurück nach Grönland, lebten aber in einem speziellen Heim, isoliert von ihren Familien. Sechs der „Grönland-Kinder“ leben noch. Unter ihnen: die heute 77-jährige Helene Thiesen.
fluter.de: Frau Thiesen, wie haben Sie den Moment als Kind erlebt, als Sie von Ihrer Familie getrennt und nach Dänemark gebracht wurden?
Helene Thiesen: Ich war sieben. Wir lebten in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, wo mein damals schon verstorbener Vater Telegrafist gewesen war. Es kamen mehrfach fremde Männer zu uns. Meine Mutter sagte mir, ich solle nach Dänemark fahren, mit dem Schiff 14 Tage übers Meer, und dort Dänisch lernen. Ich verstand nicht, warum meine Mutter mich wegschicken wollte. Warum ich? Wohin? Wie lange? Keiner wusste das. Meine Mutter sagte nur: Du bist die Lebhafte, du bist clever, du gehst. Ich wusste damals gar nicht, dass es hinter dem Meer überhaupt eine Welt gab. Nuuk war meine Welt, meine Schwester, mein kleiner Bruder, meine Mutter waren meine Welt.
Man brachte Sie und die 21 anderen in ein Ferienheim an der dänischen Küste, später zu Pflegefamilien.
Dänemark, was für ein Land. Da gab es Bäume und Blumen und Katzen, alles Dinge, die wir in Grönland nicht kannten. Einmal sagten sie uns: Die Königin wird euch besuchen. Wir wussten gar nicht, was das ist: eine Königin. Da konnten wir dann schon die ersten Lieder singen auf Dänisch.
Wie ging es Ihnen bei der Pflegefamilie?
Nicht gut. Ich hörte auf zu sprechen, bekam Ausschläge an Armen und Beinen. Man suchte dann eine neue Familie für mich, die sehr gut zu mir war. Ich würde fast sagen, dass sie mich liebte. Meine Pflegeschwester Tove treffe ich heute noch. Trotzdem sehnte ich mich nach Hause.
Die Rückkehr nach mehr als einem Jahr war ein Schock.
Wir Kinder fielen uns in die Arme, als wir uns auf dem Schiff wiedersahen. Irgendwann sagte einer: „Merkt ihr eigentlich, dass wir Dänisch miteinander sprechen?“ Wir kratzten all das Grönländisch zusammen, das uns geblieben war – und kamen auf gerade noch drei Wörter: Anaana, das heißt Mama. Ataata, Papa. Und: Qivittorssuaq, das ist ein Bergtroll. Am Kai in Nuuk rannte ich auf meine Mutter zu, umarmte sie, und es sprudelte aus mir heraus: „Mutter, du hättest Dänemark sehen sollen, so ein schönes Land. Bäume und Blumen überall, wie du gesagt hast, aber wie habe ich euch vermisst!“ Dann begann Mama zu reden, ich schaute zu ihr hoch, und mein Herz setzte aus: Ich verstand kein Wort. Mein Grönländisch war komplett weg. Ich konnte mit meiner eigenen Mutter nicht mehr sprechen.
Und das blieb so?
Ja, wir waren zwar wieder in Grönland – durften aber nicht zu unseren Familien zurück. Sie hatten ein neues Kinderheim für uns gebaut, am Rande von Nuuk. Im Bus auf dem Weg dorthin konnte ich vor Tränen kaum sehen. Vom Fenster des Heimes aus sah ich in der Ferne das Haus meiner Familie. Besuche waren aber nur selten erlaubt, nach drei Monaten durfte meine Mutter das erste Mal kommen. „Das hier ist eure neue Familie“, sagten sie. Sie hatten wohl Angst, wir könnten zurückfallen ins Grönländische, wir sollten doch perfekt Dänisch sprechen. Die anderen Kinder in Nuuk verspotteten uns: Seid ihr nicht Grönländer? Und sprecht die Sprache nicht?
Sie blieben acht Jahre im Heim, bis Sie 16 waren. Und lebten am Ende doch in Dänemark.
Obwohl ich geschworen hatte, nie wieder dorthin zurückzukehren! Aber ich ging nach Dänemark, um dort eine Ausbildung zu machen, und lernte meinen Mann kennen. Die Liebe meines Lebens, ein Däne. Ich gehöre zu denen aus der Gruppe, die doch ein gutes Leben hatten, trotz all der Bitterkeit. Unsere Töchter gingen in Dänemark zur Schule, also blieben wir. Ich habe viele Jahre als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet.
Als Sie erfahren haben, dass ein Experiment des dänischen Staates Ihr Leben auf den Kopf gestellt hat, waren sie schon 46.
Die Autorin Tine Bryld hatte die Akten gefunden im Nationalarchiv in Kopenhagen. Sie rief mich an: „Ihr wart ein Experiment! Man wollte euch zu einer grönländischen Elite machen.“ Mir fiel der Telefonhörer aus der Hand. Ich weinte und weinte und weinte. Das war der größte Schock in meinem Leben. Wir waren ein Experiment!
Zur „Elite Grönlands“ wurde Ihre Gruppe jedenfalls nicht.
Ha! Wissen Sie, es leben ja nur noch sechs von uns. Die anderen sind tot, viele von ihnen traurige Schicksale, sie verfielen dem Alkohol, Depressionen, nahmen Drogen, brachten sich um. Die dänische Regierung hatte uns die Familie, die Sprache und unsere Heimat genommen – und uns dann einfach irgendwann vergessen.
„Die Dänen waren die Könige in Grönland, sie waren wie Götter“
Sie haben fast Ihr ganzes Leben in Dänemark verbracht. Wo ist Ihre Heimat?
Grönland, natürlich! Nuuk ist meine Heimat. Da komme ich her, da lebt meine Familie. Meiner Mutter habe ich aber nie verziehen. Bis heute frage ich mich immer wieder, wie sie mich nur weggeben konnte. Als sie starb, lud mich meine Schwester zur Beerdigung ein. Ich bin nicht hingegangen.
Weder Sie noch Ihre Familien wussten damals, was wirklich mit Ihnen geschehen würde, als das Schiff Sie abholte.
Unglaublich, nicht? Einmal hat eine Buchautorin den Schwager meiner Mutter gefragt, warum sie damals nicht gefragt hätten, was mit mir geschehen wird? Er hat sie angeschaut und gesagt: „‚Fragst du Gott, was er vorhat?“ So war das. Die Dänen waren die Könige in Grönland, sie waren wie Götter.
Sie haben gemeinsam viele Jahre für eine Entschuldigung vom dänischen Staat gekämpft.
Natürlich wollten wir eine Entschuldigung, natürlich wollten wir eine Entschädigung. Nach so vielen Jahren des Unglücks. Sie haben uns gestohlen! Wir wollten, dass sie das Unrecht anerkennen und dass sich so etwas nicht wiederholt.
Anfang März hat die dänische Regierung nach Jahren eingelenkt: Premierministerin Mette Frederiksen hat Sie empfangen. Und sich für das „falsche, unmenschliche und herzlose“ Vorgehen Dänemarks entschuldigt.
Ein großartiger Tag. Ich war so glücklich. Ich konnte es nicht glauben. Mette Frederiksen stand da vorne und sagte tatsächlich dieses Wort: „Entschuldigung“. Ich hielt meine Freundin Kristine, die damals auch entführt wurde, an der Hand, und wir weinten. 70 Jahre hat es gedauert, bis wir dieses Wort zu hören bekamen.
Und jetzt?
Ich schreibe ein Buch über mein Leben. Und gerade packe ich: Mette Frederiksen wird noch einmal in Nuuk sprechen, vor unseren Familien. Ich will dabei sein. In Nuuk hat die Geschichte begonnen, in Nuuk soll sie enden.
Portraits: Kai Strittmatter / Historische Fotos: Helene Thiesen