fluter.de: Sie haben sich vor drei Jahren zur Death Doula ausbilden lassen. Was unterscheidet diese von einer Bestatterin, Sterbe- oder Trauerbegleiterin?
Charlotte Wiedemann: Eine Death Doula kann Leute physisch und psychisch durch therapeutische Behandlungen begleiten, sie kann zuhören oder die Lebensgeschichte für Hinterbliebene aufschreiben – einfach alles, was den Sterbenden guttut. Sie bereitet sie und deren Familien auch auf den Tag X vor, spricht mit ihnen über Testament, Patienten- und Bestattungsverfügung. Sie klärt ab, dass alle wichtigen Dokumente an einem Ort sind, dass Passwörter notiert werden und man weiß, was mit Social-Media-Profilen passieren soll. Sie wird zu einer Moderatorin für die Familie.
Warum braucht es dafür eine eigene Berufsbezeichnung?
Besonders im deutschen Raum ist der Begriff, der ja eine Anlehnung an die „Doula“, eine Art Hebamme, ist, noch wenig definiert. Das ist gut: Wir können ihn also individuell mit Leben füllen. Viele der herkömmlichen Trauerangebote in Deutschland klingen nach Käsekuchen und Staubigkeit. Wir brauchen meiner Meinung nach generell einen neuen Umgang mit dem Sterben, und deshalb finde ich auch einen neuen Begriff adäquat.
Wieso sind Sie Death Doula geworden?
Bei der Geburt meiner zweiten Tochter bin ich mit der Möglichkeit des Todes konfrontiert worden. So ist das ja bei vielen Geburten – es ist eine sehr existenzielle Erfahrung. Seither fasziniert mich der Übergang von der einen in die andere Welt, der immer da ist, aber gerne wegorganisiert wird. Ich hab mich bei dem Verein Going With Grace ausbilden lassen. Gemeinsam mit den Betroffenen versuche ich dem Tod auf individuelle Weise zu begegnen und mit kreativen Ideen mit dem nahenden Ende umzugehen.
Wie gehen wir als Gesellschaft denn für gewöhnlich mit Verstorbenen um?
Eigentlich gar nicht, das übernehmen andere für uns. Genau das sollte sich ändern. Ich persönlich möchte wissen, dass es „meinen“ Toten gut geht, bis sie bestattet werden. Was passiert zwischen dem Eintreten des Todes und der Bestattung? Das wissen Angehörige oft gar nicht.
„In Lateinamerika und vielen asiatischen Ländern gibt es viel mehr Berührung mit dem Tod als in Westeuropa“
Also geht es Ihnen um mehr Selbstbestimmung?
Und um Selbstvertrauen, diesen Weg zu gestalten – und sich, wenn man will, bewusst dabei begleiten zu lassen von Personen, die vielleicht mehr darüber wissen. So wie wir uns auch von einer Hebamme begleiten lassen, wenn wir ein Baby bekommen. In Gesprächen mit Kindern habe ich festgestellt, dass man sich immer viel Mühe gibt, den Tod von ihnen fernzuhalten, während sie selbst kaum Berührungsängste haben. Das spiegelt das Verständnis in der Gesellschaft gut wider: Die Sendenden haben das Gefühl, den Empfangenden nichts zumuten zu können.
Warum wird der Tod so gerne ausgeklammert?
Das ist nicht überall so. In Lateinamerika und vielen asiatischen Ländern beispielsweise gibt es viel mehr Berührung mit dem Tod als in Westeuropa. Ich kann mir vorstellen, dass das mit den Weltkriegen zusammenhängt: Da hat der Tod in übernatürlichem Maße „zugeschlagen“ und die Menschen emotional, aber auch logistisch überfordert. Man hat begonnen, den Tod zu institutionalisieren, ihn in Kliniken und Bestattungsinstitute auszulagern, schnell wieder nach vorne zu schauen. Wenn jemand stirbt, ist es der natürliche Reflex, den Bestatter oder die Bestatterin anzurufen und den leblosen Körper direkt wegschaffen zu lassen.
Weil wir nicht wissen, was wir mit einem toten Körper machen sollen?
Genau, dabei wäre es doch relevant für unsere Gesellschaft zu wissen, was man tut, wenn ein toter Mensch vor einem liegt.
Und das wäre?
Um einen Körper erst mal zu Hause zu behalten und individuell Abschied zu nehmen, bedarf es eigentlich nur einer angemessenen Kühlung durch Kühlpads und einer leichten hygienischen Versorgung: waschen und Papier unterlegen, um Körperflüssigkeiten aufzufangen. Das ist, je nach Bundesland, auch für bis zu 36 Stunden erlaubt – und sogar noch länger, wenn man es beantragt, nur weiß das kaum jemand. Dass ein toter Mensch mit im Raum ist, ist für uns deshalb ein total ungewöhnlicher Gedanke.
Bestattungsinstitute haben meist zugezogene Gardinen und suggerieren, dass einen niemand beim Trauern sehen darf.
Es gibt den Satz, dass Bestatter und Bestatterinnen immer so sprechen, als wäre bei ihnen selbst gerade jemand gestorben. Dabei braucht man doch jemanden, der in so einem Moment Zuversicht und Sicherheit ausstrahlt und einen begleitet.
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Verändert Corona unsere Wahrnehmung vom Sterben? Wir haben Menschen gefragt, die täglich mit dem Tod zu tun haben
Durch die Pandemie wurde der Tod präsenter, was macht das mit der Gesellschaft?
Der Diskurs hat an Schwung gewonnen, die Endlichkeit wurde visualisiert: steigende Todesfallzahlen, Särge in Bergamo, Kühltrucks in New York. Corona hat die Logistik nach einem Todesfall sichtbar gemacht, aber auch die Rituale drum herum wie das Bestatten. Wir wurden dazu angehalten, darüber nachzudenken, wie wir mit dem Tod umgehen wollen. Vieles musste neu geordnet oder gar erdacht werden.
Zum Beispiel?
Digitales Gedenken, weil man in größeren Runden nicht mehr zusammenkommen konnte. Es gibt jetzt mehr Spielraum, weil die gewohnten Reglementierungen geöffnet werden mussten.
Der Tod bringt viel Etikette mit sich: die „richtigen“ Worte, die „angemessenen“ Blumen. Warum sind viele so verunsichert, wenn es um Anteilnahme geht?
Wir denken immer, wir müssen eine Situation besser machen, aber das können wir nicht. Wir können nicht dieses eine geniale Ding sagen, diese einen „richtigen“ Worte finden, die dann alles einfacher machen. Also sagen wir häufig lieber gar nichts oder sprechen in nichtssagenden Phrasen. Zum Beispiel: „Wenn du was brauchst, sag Bescheid.“ Kaum jemand, der trauert, wird sich darauf melden und konstruktiv mit so einem Angebot umgehen können. Lieber einfach machen, statt zu fragen. Selbst anrufen, statt den Ball den Trauernden zuzuspielen.
Ist es okay, den Trauerprozess aus Zeitmangel zu verschieben?
Manchen Leuten hilft es ja sogar in der ersten Phase nach einem Todesfall, etwas zu tun zu haben, den Abschied zu organisieren oder den Nachlass zu ordnen. Sofern man diese Schritte selbstbestimmt gehen darf, kann auch dieses Verschieben wichtig sein. Trotzdem wird man wohl in den meisten Fällen nicht umhinkommen, „den Rest“ irgendwann zuzulassen.
„Hat man den Tod vor Augen, ist es plötzlich einfach, sich auf Dinge zu besinnen, die einem guttun und einen erfüllen“
In einer Welt voller Leistungsdruck ist es manchmal schwierig, Trauer zuzulassen.
Das stimmt. Aber es hat auch viel damit zu tun, dass wir glauben: Wenn wir eine Emotion zulassen, wird sie größer, und wir kommen nicht mehr raus. Dabei ist ja das Gegenteil der Fall. Unser Umgang mit Emotionen ist definitiv ausbaufähig, gerade hierzulande. Wut, Trauer, Verletzlichkeit zum Beispiel sollten meiner Meinung nach nicht ständig aus dem Berufsalltag rausgehalten werden müssen. Es ist doch irre, das eigene Gefühlschaos, nachdem man einen Menschen verloren oder ein Baby bekommen hat, nicht am Arbeitsplatz teilen zu dürfen, sondern so zu tun, als wäre nichts gewesen.
Haben Sie einen praktischen Gedanken dazu, wie man den Umgang mit dem Tod im Alltag üben kann?
Manche Teile der jungen Generationen streben enorm nach Achtsamkeit und Erfüllung. Sie machen so viele Dinge, um sich dahin zu bewegen: Yoga, Reisen, unterschiedliche Religionen ausüben. Für mein Empfinden ist der Tod eigentlich alles, was wir brauchen, um diese Themen in unser Leben zu holen. Hat man den Tod vor Augen, ist es plötzlich einfach, sich auf Dinge zu besinnen, die einem guttun und einen erfüllen.
Titelbild: Erli Grünzweil / Rita Puig-Serra Costa / Connected Archives