„Als Teenager dachte ich, es wäre ganz normal, auch Frauen attraktiv zu finden“, sagt Nike Lange. Sie lacht. Erst später verstand sie, dass ihre Gefühle zu Frauen anders waren als die der meisten ihrer Freundinnen. Heute ist die Kölnerin 22 Jahre alt und sich ihrer sexuellen Orientierung voll bewusst. Nike ist nicht lesbisch. Sondern bi.
Bi bedeutet in erster Linie, nicht monosexuell zu sein – also sich nicht als ausschließlich hetero- oder homosexuell zu verstehen. Den gängigsten Definitionen zufolge heißt Bisexualität, mehr als eine Geschlechteridentität sexuell oder romantisch anziehend zu finden. „Für viele war ich die erste offen bisexuelle Person in ihrem Umfeld“, erzählt Nike, wenn sie an ihr Coming-out im letzten Jahr denkt. Davor wussten es nur die engsten Freund:innen.
Immer mehr Menschen identifizieren sich inzwischen nicht mehr als ausschließlich hetero- oder homosexuell. In Deutschland sind das laut Umfragen mehr als ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen. Solche Zahlen zeigen, dass sich unsere Vorstellung von Sexualität wandelt. Die Autorin und Psychologin Julia Shaw wundert das nicht. Mit „Bi: Vielfältige Liebe entdecken“ hat sie kürzlich ein populäres Sachbuch zum Thema veröffentlicht. Lange habe der Diskurs um Bisexualität ein Schattendasein gefristet, bedauert die Autorin in ihrem Buch. Ihr Ziel sei es, Bi-Identitäten zu normalisieren, mit Vorurteilen aufzuräumen und die zahlreiche Forschung zum Thema Bisexualität der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für Shaw ist das ein persönliches Anliegen. Denn sie ist selbst bi.
Nike ist froh, dass ihr Umfeld so offen und mit großer Akzeptanz auf ihre sexuelle Identität reagiert hat. Die gängigen biphobischen Vorurteile kenne sie „zum Glück“ bisher nur vom Hörensagen.
Der Brasilianer Pedro Alighieri kennt eine andere Realität. Der 23-jährige Designstudent lebt in Brasília, der Hauptstadt des Landes. Früher hat sich Pedro als bi identifiziert, mittlerweile versteht er sich als pansexuell. Bisexualität als Oberbegriff schließt laut Shaw auch die Pansexualität ein. Dabei wird die individuelle romantische oder sexuelle Anziehung zu einer Person noch unabhängiger von deren Geschlechtsidentität verstanden. So sind außerdem nichtbinäre oder intergeschlechtliche Menschen mitgemeint.
Geht Pedro feiern, gibt es Nächte, da sorgt sich seine Mutter um ihn. Homosexualität wird in Brasilien zwar nicht per Gesetz kriminalisiert wie in vielen anderen Ländern der Welt. Gewalt und Morde an Queers sind hier jedoch an der Tagesordnung. Selbst Bolsonaro, der amtierende Präsident Brasiliens, hetzt offen gegen Schwule. In diesem homophoben Klima braucht es Mut, die eigene Bisexualität zu erforschen und zu leben. Seine Mutter und seine Schwester wissen um Pedros Identität und akzeptieren ihn so, wie er ist. Das gibt ihm Hoffnung.
Doppelt diskriminiert: den einen zu homo, den anderen zu hetereo
Innerhalb der LGBTQ-Community bildet die Gruppe der Bisexuellen Studien zufolge eine leichte Mehrheit. Das zeigen zumindest Datensätze aus den USA und dem Vereinigten Königreich. Erstaunlich ist dabei aber, dass die meisten Bisexuellen nicht geoutet sind. Im Vergleich mit Schwulen oder Lesben outen sie sich weniger oft. Während laut einer Studie aus dem Jahr 2013 ein Drittel der Bi-Frauen offen bi ist, sind es bei den Bi-Männern sogar nur zwölf Prozent.
Julia Shaw glaubt, dass das an Furcht vor Stigmatisierung und doppelter Diskriminierung liegt: Den einen sind die Bisexuellen nicht straight, den anderen nicht queer genug. Denn Bi-Menschen erfahren, so Shaw, nicht nur durch Heteros Diskriminierung, sondern auch durch Schwule und Lesben. Außerdem hätten viele Menschen heute noch eine ganze Reihe „hässlicher Bi-Mythen“ im Kopf, schreibt Shaw. Dazu gehöre, dass Bisexuelle sich selbst und anderen nur etwas vormachten. Bisexualität werde zudem oft als „pervers“ oder „exzessiv“ betrachtet. Ein populärer Irrglaube sei außerdem, Bisexuelle fänden jede:n attraktiv.
„Natürlich wurde ich auch schon mal gefragt, ob ich mich zwischen Männern und Frauen einfach nicht entscheiden könne“, sagt Nike. Für Pedro ist der absolute Klassiker unter den Vorurteilen: „Es ist nur eine Phase.“ Das Problematische an solchen Aussagen sei, dass sie implizieren, dass Bisexualität in Wirklichkeit nicht existiere, kritisiert Shaw.
Als Teenager war Pedro einige Jahre mit einem Mädchen zusammen. Als die Beziehung endete, offenbarte er seiner Mutter erstmals seine Bisexualität. Ihre Reaktion war: „Du hast also ständig Dreier?“ Er begehre schließlich Frauen und Männer. Ein Missverständnis, das Pedro sofort korrigierte, denn bi zu sein hat für ihn keinesfalls damit zu tun, nach sexuellen Abenteuern zu suchen, bei denen notwendigerweise beide Geschlechter involviert sind.
Gerade Bi-Männer werden laut Shaw oft als monosexuell abgestempelt
Momentan datet Nike eine Frau. „Wenn wir uns in der Öffentlichkeit küssen, heißt es oft: ‚Ach, du bist lesbisch!‘ Dann sage ich immer: ‚Nein. Ich bin bi‘“, sagt sie. Damit beschreibt Nike eine bi-spezifische Erfahrung: die Auslöschung der Bi-Identität – auch „bi erasure“ genannt. Bisexuelle werden, je nachdem, mit wem sie unterwegs sind, als hetero, lesbisch oder schwul abgestempelt. Nie als bi anerkannt. Pedro glaubt, in den Köpfen der Menschen „gibt es offiziell nur zwei Schubladen: hetero oder homo.“ Eine dritte Schublade, die für Bisexuelle, existiere nicht.
Nike hat eine eigene Strategie gefunden, um ihre sexuelle Identität sichtbar zu machen: die Sprache. „Werde ich gefragt, ob ich einen Freund habe, dann sage ich: Ich habe gerade keinen Freund und auch keine Freundin.“ Denn wenn sie ohne Partnerin oder Partner unterwegs ist, wird sie meistens als Hetero gelesen. Bisexualität lässt sich von außen schwer erkennen, und Heterosexualität ist immer noch die Norm. Während Shaw in einem Kapitel ihres Buches ergebnislos nach einem „Bi-Look“ sucht, glaubt Nike jedoch, ihn gefunden zu haben: „Mein Undercut war für mich schon ein Zeichen“, findet sie. Die neue Frisur führte dazu, dass sie sich vor ihrer Mutter outete. „Schneidest du dir die Haare so, damit es im Sommer luftiger ist?“, wollte diese wissen. „Nein“, konterte die Tochter: „Damit ich nicht so hetero aussehe.“ „Gut, wie willst du dann aussehen?“, habe die Mutter gefragt. Nikes Antwort: „Bisexuell.“
Pedro liebt Partys. Im Club küsst er mal Männer, mal Frauen. Ist es eine Frau, kann er sicher sein, dass im Nachhinein jemand zu ihr hingehen und sagen wird: „Du weißt schon, dass der Typ eigentlich schwul ist?“ Shaw bestätigt, dass gerade Bi-Männer oft als monosexuell abgestempelt werden. Das passiere nicht nur im zwischenmenschlichen Alltag. Als Beispiel führt sie „Brokeback Mountain“ (2005) an. Die Diskussion um das Filmdrama mit Heath Ledger und Jake Gyllenhaal konzentrierte sich stets auf zwei „schwule Cowboys“, „dabei sind die Figuren eindeutig bisexuell angelegt“, schreibt Shaw.
Als Teenager gab es für Nike keine bisexuellen Vorbilder. „Deshalb wusste ich lange Zeit nicht, dass ich bi bin“, glaubt sie heute. Serien wie „Heartstopper“ sind da immerhin ein Anfang. Dass hier eine Figurenentwicklung von hetero zu bi erzählt wird und nicht von hetero zu schwul, findet Nike gut. Sie erwartet, dass die neuen Serien gerade den Jüngeren mehr Vorbilder liefern werden, und ist überzeugt, dass auch soziale Medien mit Apps wie TikTok und Instagram mehr Menschen Gelegenheit geben, sich zu öffnen – und zwar für alle sexuellen Orientierungen auf dem Kontinuum. Auch Pedro hat diese Hoffnung. „Das Großartige daran, bi oder pan zu sein, ist ja, dass man Menschen wirklich dafür lieben kann, wer sie im Kern sind“, sagt er.