Thema – Körper

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Schwere Zeiten

Norma Bastos ist übergewichtig – wie zwei Drittel der Brasilianer. Viele wollen darin ein Zeichen des Wohlstands sehen. Unsinn, sagt Bastos: „Das Gesicht der Armut ist fett“

Norma Bastos

Den ersten Infarkt hatte Norma Bastos während einer Predigt. Die Pastorin stand in ihrem Wohnzimmer, das zugleich eine kleine Nachbarschaftskirche ist. Norma Bastos sprach gerade von Jesus Christus, wie sie es in nahezu jedem Satz tut, da spürte sie einen Schwindel aufkommen, dann einen Schmerz in der Brust, eine Enge, Panik. Das Nächste, an das sie sich erinnern kann, ist ein Krankenhaus.

Den zweiten Infarkt erlitt sie beim Einkaufen, den dritten beim Spazierengehen, den vierten beim Wäschewaschen, wo Norma Bastos kopfüber ins Waschbecken kippte und da lag, bis die Nachbarin sie entdeckte.

„Im Krankenhaus sagten sie, ich müsse mein Leben ändern“, erzählt Bastos. Ihr Blutdruck lag bei 240, ihr Blutzuckerwert bei 400, sie wog 198 Kilogramm. „Der Arzt sagte, ich soll Gemüse kaufen, gesünder essen“, sagt Bastos. „Und ich fragte ihn: Wie im Namen von Jesus Christus soll ich mir das leisten?“

Norma Bastos ist eine von rund 130 Millionen übergewichtigen Brasilianern, das sind fast zwei Drittel der Bevölkerung. Knapp ein Drittel ist adipös, also so stark übergewichtig, dass das Risiko für Erkrankungen steigt. Vor 20 Jahren waren es noch zwölf Prozent. Diese Zahlen stammen vom brasilianischen Statistikinstitut IBGE, andere Institute nennen andere Zahlen. Klar ist aber, dass nur wenige Länder einen höheren Anteil Übergewichtiger an der erwachsenen Bevölkerung haben, darunter Mexiko und die USA.

CEASA
Das Zentrum CEASA verteilt einen Großteil der im Bundesstaat Rio angebauten Produkte – auch als Lebensmittelspenden. Auf die sind in Rio viele angewiesen, die nicht von industriell gefertigter Nahrung leben wollen

Viele erklären dieses Problem paradoxerweise mit den steigenden Einkommen in Brasilien: Die hätten sogenannte „hochverarbeitete Lebensmittel“ wie Süßgetränke und Fertigprodukte, die viel Energie, aber wenige Nährstoffe enthalten, für die unteren Bevölkerungsschichten erst erschwinglich gemacht. So wurden auch die Armen zur Zielgruppe. Die Erklärung ist beliebt, sie erzählt eine Geschichte des Aufstiegs. Norma Bastos aber hat eine ganz andere Erklärung: „Das Gesicht der Armut“, sagt sie, „ist fett.“

Bastos lebt in der Favela Jacarezinho, einem der ärmsten Viertel in Rio de Janeiro. Der Fluss Jacaré – „Krokodil“ auf Portugiesisch – durchzieht die Favela. Er dient als offene Kanalisation. Direkt am stinkenden Jacaré steht Bastos’ Haus, in dem es eine Küche und einen größeren Raum gibt, der als Wohnzimmer und Schlafzimmer herhält und dreimal die Woche auch als Kirche. Bastos ist evangelikale Pastorin der Assembleia de Deus, ihre Hauswand ist bunt bemalt, mit Friedenstauben und einem Jesusbildnis.

Direkt daneben, links, verkauft ein Kiosk Pommes frites mit Cheddar und Bacon; rechts steht ein Schild „Doce&Cabana“, ein Wortspiel, das so viel wie Süßigkeitenbude bedeutet.

Limo kostet in Brasilien oft genauso viel wie Wasser

„Früher habe ich von Wasser und Kuchen gelebt“, sagt Bastos. Wasser, Zucker, Maismehl. Es ist die billigste Art, sich hier zu ernähren. Bastos arbeitet nicht für Geld. „Ich mache Gottes Arbeit.“ Ihr Sohn ist im Gefängnis, der Mann weg, die Tochter ebenfalls arm. Bastos muss mit einer mageren Sozialhilfe und den Lebensmittelspenden der Gemeinde auskommen: Paçoca, ein mehliges Bonbon aus Erdnüssen, Zucker und Öl, verschiedene Kekse und Schokoladen.

In Jacarezinho gibt es einige Supermärkte, direkt am Rand der Favela steht einer der wichtigsten Großmärkte Rios. Das Problem ist nicht das Angebot, sondern der Preis. Der brasilianische Real verlor in den vergangenen Jahren enorm an Wert, die Rohstoffpreise steigen und mit ihnen auch die für Reis, Bohnen und Hühnchen, die – relativ gesunden – Grundnahrungsmittel des Landes. Zucker, Farofa (Maniokmehl) oder Fubá (Maismehl) indes sind immer noch erschwinglich. Zuckrige Getränke wie Guaraná und Cola kosten in Kiosken oft genauso viel wie Wasser, man kauft sie gern in Dreiliterflaschen.

Wer Geld hat, kann sich weiter gut ernähren. „Wer keines hat, isst Unsinn und Mehl“, sagt Norma Bastos. Was zu zwei scheinbar gegensätzlichen, aber verwandten Problemen führt: Hunger und Übergewicht.

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Norma Bastos
Norma Bastos mit ihrer Enkelin Ana Victoria. Wenn die Fünfjährige erst zur Schule geht, wird sie vermutlich auch lernen, was „Fatshaming“ bedeutet: In manchen Bundesstaaten ist gesetzlich geregelt, dass im Unterricht über die Diskriminierung aufgrund des Gewichts gesprochen werden muss

Bis in die 1990er-Jahre zählte Brasilien zu den Ländern, in denen viele Millionen Menschen hungern müssen. Mehr als 20 Millionen waren unterernährt, mehr als 40 Millionen vom Hunger bedroht. Unter Lula da Silva, der 2003 Präsident wurde und dieser Tage Amtsinhaber Jair Bolsonaro in der Stichwahl herausfordert*, startete die Regierung große Sozialprogramme wie „Fome Zero“, Null Hunger. Bedürftige Brasilianer erhielten Lebensmittelpakete und monatliche Zuschüsse, die sie mit Grundnahrungsmitteln versorgen sollten.

„Das Problem ist nicht, dass es kein Essen gibt. Das Problem ist, dass unser Essen keine Nahrungsmittel sind“

Brasilien habe den Hunger unter Lula besiegt, hieß es damals. Wenn das stimmt, ist er unter den neoliberalen Nachfolgeregierungen zurückgekehrt. Seit vergangenem Sommer steht Brasilien wieder auf der Hunger-Watchlist der Welternährungsorganisation. Laut der hungern 15 Millionen Brasilianer, rund 61 Millionen gelten laut UN als „nicht ernährungsgesichert“.

 

Und gleichzeitig ist ein Drittel der Erwachsenen adipös? „Das Problem ist nicht, dass es kein Essen gibt“, sagt Norma Bastos. „Das Problem ist, dass unser Essen keine Nahrungsmittel sind.“

2016 hat Brasilien ein Papier der Vereinten Nationen unterschrieben, eine Selbstverpflichtung, das Übergewicht im Land zu verringern. Unter anderem sollten der Konsum von Süßgetränken um 30 Prozent verringert und der Anteil von Erwachsenen, die regelmäßig Obst und Gemüse essen, um 20 Prozent gesteigert werden. Aber das „Plansan“-Programm zur Verbesserung der nationalen Ernährungssicherheit, das 2011 unter Lula da Silvas Arbeiterpartei eingesetzt wurde, ließ Bolsonaro ohne Neuauflage auslaufen.

CEASA
Rio mag mit Strandkörpern berühmt geworden sein, zum Stadtbild gehören aber vor allem ärmere Menschen, die übergewichtig sind und trotzdem unterernährt

Als Bastos sechs Monate nach ihrem vierten Herzinfarkt aus dem Krankenhaus entlassen wurde, zahlte Brasiliens staatliches Gesundheitssystem zwar einen Ernährungsberater. Dessen Vorgaben kann Bastos aber unmöglich einhalten – zu teuer. Also wandte sie sich an ihre Kirche. „Ich habe für Gemüsespenden gepredigt“, sagt sie. „Brokkoli, Blumenkohl, Yams oder Karotten.“ Äpfel und Birnen, ihre Lieblingsfrüchte, sind zu teuer, also hat sie sie durch Kokosnüsse und Limetten ausgetauscht, die wachsen überall, die Kinder der Kirchengänger pflücken sie für sie.  

Auf der anderen Seite der Stadt, in der Südzone mit den Postkartenstränden, kann man den Körperkult sehen, der Rio berühmt und die Konten und Kalender der Schönheitschirurgen prall gemacht hat. Hier flaniert man trainiert, gebräunt, gut gelaunt und weitgehend unbekleidet zwischen den Anlagen mit Klimmzugstange und Dip-Bars herum.

Von Übergewicht betroffen: 1. Arme, 2. Frauen und 3. Stadtbewohner

Derart kuratierte Körper werden entsprechend ernährt. Die Speisekarten bieten als Gericht getarnte Proteinwunder, ballaststoffreiche Bohnen, Maniok und Süßkartoffeln. Überall gibt es den Bodybuilderklassiker gegrilltes Hühnchen mit Reis. All das kann sich Norma Bastos nicht leisten. Ein sanduiche natural – ein Vollkorntoast-Sandwich, oft mit Putenbrust und Cream Cheese – kostet 20 Reais, also vier Euro. Eine coxinha hingegen, ein frittierter Hühnerschenkel mit Ketchup und Käse auf die Hand, umgerechnet 60 Cent.

Rios Strände gelten als demokratisch, als einer der wenigen öffentlichen Orte, an dem Arm und Reich zusammentreffen. Wie hoch das Einkommen eines Strandbesuchers ist, erkennt man an seiner Hautfarbe: je weißer, desto wahrscheinlicher wohlhabend. Oder am Bauch: je dicker, desto wahrscheinlicher arm. Von Übergewicht und Adipositas am meisten betroffen sind – in dieser Reihenfolge – Arme, Frauen und Stadtbewohner aus dem Südosten Brasiliens, in dem auch Rio de Janeiro liegt.

Der vierte soll Norma Bastos’ letzter Herzinfarkt sein. Sie hat 30 Kilo abgenommen. Ihre Tochter ist mit ihr auf Diät, aber die Lebensmittelspenden, die Bastos von ihrer Gemeinde bekommt, reichen selten aus. Die beiden gehen regelmäßig zu Rio de Paz. Die NGO engagiert sich eigentlich gegen die Bandengewalt in Jacarezinho, mittlerweile kümmert sie sich um Suppenküchen und Mittagstische in Favelas.

* Update, 31. Oktober 2022: Lula da Silva hat sich in der Stichwahl durchgesetzt. Ob Jair Bolsonaro die Wahl anerkennt, ist noch unklar.

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