Am zweiten Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine lädt ein junger Mann ein Video bei Instagram hoch. Sein Haar ist kurz, sein Blick fahrig, er ringt sichtbar um Worte. „Die Situation ist verdammt kompliziert“, setzt er an, um anschließend eine Stunde lang aus seiner Wohnung heraus den Konflikt und seine Ursprünge zu erklären. Die Ukraine würde von manchen zu Unrecht als rechtsradikal diffamiert. „Wir entwickeln uns, werden progressiver“, sagt er – und wer im Land Russisch spreche, werde nicht benachteiligt, er sei selbst mit der russischen Sprache aufgewachsen.
Timur Dzhafarov ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Als John Object ist er einer der aufstrebenden Vertreter des ukrainischen Techno. Sein Leben wird durch den russischen Angriff auf den Kopf gestellt. Einen Tag nachdem Timur sein Video auf Instagram postete, lädt er zuerst beim Online-Musikdienst Bandcamp 58 Tracks hoch und meldet sich dann als Freiwilliger zum Kriegsdienst.
Vor allem seit der Euromajdan-Revolution von 2013/14 gehört die Technoszene Kyjiws zu den vielfältigsten in Europa. Günstige Mieten, verlassene Fabriken aus der Zeit der Sowjetunion und die permanente Lust auf Neues haben der ukrainischen Hauptstadt viele Vergleiche mit dem Berlin der 1990er-Jahre eingebracht. Timurs Tracks klingen industriell, nach rostigen Maschinenteilen, klirrendem Glas, nach Stahlfedern, die aus der Fassung springen. Trotz dieses düsteren Sounds ist Timur nicht auf die Schrecken des Krieges vorbereitet. Er verarbeitet sie bei Instagram, postet immer wieder Beiträge, Videos, Storys.
„Ich wünschte, ich könnte über Musik posten oder Musik machen, Gigs spielen, ich wünschte, ich müsste nicht das hier sein. Aber das ist es, was Russland aus mir gemacht hat: eine Uniform und eine Waffe. Ein Ziel. Ich bin das hier nicht, wir sind das hier nicht, aber wir müssen kämpfen, um zu überleben.“
Seine Abneigung gegen Russen wird immer größer, seine Posts immer radikaler
Vor dem Krieg hatte Timur als Übersetzer Geld dazuverdient, nun bietet er, als Freiwilliger, auch der Armee seine Sprachkenntnisse an. So übersetzt er die Gebrauchsanweisung einer US-amerikanischen Waffe, die an die Ukraine geliefert wurde.
Obwohl viele Menschen Timurs Beiträge kommentieren, ihn aufmuntern oder es zumindest versuchen, entsteht für ihn schon bald eine Kluft zwischen ihm und jenen Menschen, die in der Ukraine ihren Alltag so normal weiterzuleben versuchen, wie es eben geht. Die Bilder, die Timur postet, zeigen ihn immer häufiger mit leerem, entgeistertem Blick, hinter ihm zerbombte Landschaften, ausgebrannte Fahrzeuge, Tod. „Ich verurteile die Leute nicht dafür, dass sie ihr Leben leben“, schreibt er, nachdem sein Vorgesetzter ihn für einige Tage Fronturlaub nach Kyjiw geschickt hat – und kann dann doch nicht anders, als die wachsende Distanz zu den Zivilisten zu beschreiben. So wird ein Künstler zum Krieger.
Während er an der Front ist, wird Timur 27 Jahre alt. Er beschreibt die Abscheu vor der Verrohung aller, die in diesem Krieg kämpfen müssen. Auch er selbst kann ihr nicht entgehen. Seine Abneigung gegen Russen wird immer größer, seine Posts immer radikaler. Er wünscht den russischen Soldaten den Tod und hofft, nie wieder in seinem Leben einem Russen zu begegnen. Um der Gewaltspirale zu entkommen, macht er nun auch an der Front Musik – mit der App GarageBand auf seinem Smartphone. So werden Klänge in einer Zeit, da Worte die Realität nicht mehr erfassen können, zu der Sprache, die Timur Dzhafarov aka John Object bleibt.
Titelbild: Polina Polikarpova