Thema – Ukraine

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Was ist hier passiert?

Noch während der Krieg in der Ukraine weitergeht, kümmern sich Menschenrechtler um die Dokumentation der Verbrechen, die von den russischen Truppen begangen werden. Auch von ihrer Arbeit hängt ab, ob die Täter später zur Rechenschaft gezogen werden können

Das Exhumieren von Leichen dient dazu, die Verbrechen genau zu rekonstruieren

Seit Monaten ist die Innenstadt der ostukrainischen Metropole Charkiw wie leergefegt. Die meisten Kioske haben die Rollläden runtergelassen, einige wenige verkaufen Kaffee. Viel Kundschaft haben sie nicht. Und wer in einer der wenigen Kneipen vor seinem Glas Hochprozentigem sitzt, tut das, weil er nicht die Möglichkeit hat, für eine gewisse Zeit aufs Land zu ziehen. Es sind auch nur wenige Fußgänger unterwegs. Und die haben es alle eilig. Für einen gemütlichen Kaffee aus dem Pappbecher am Straßenrand hat in diesen Tagen niemand Zeit.

Eine, die auch heute wie jeden Tag zur Arbeit fährt, nicht im Homeoffice arbeiten will und kann, ist die Menschenrechtsanwältin Tamila Bespala. Arbeit hat sie genug. So viel, dass ihr Arbeitgeber, die „Charkiwer Menschenrechtsgruppe“, kürzlich noch zwei weitere Stellen besetzen musste. Bespalas Aufgabe: Sie betreut Opfer des Krieges. Und dabei ist sie nicht nur als Juristin gefragt. Den ganzen Tag hört sie sich geduldig die Erzählungen über Folter, Bomben, zerstörte Häuser, getötete Verwandte, traumatisierte Kinder an.

Am Strafgerichtshof in Den Haag werden bereits Anklagen gegen Russland vorbereitet

„Haben Sie schon mal ein Kind gesehen, das weint und Angstzustände bekommt, wenn es ein Feuerwerk sieht, immer nur auf den Boden schaut, mit fünf Jahren noch in die Hose macht? Solche Kinder haben wir hier im Gebiet Charkiw zuhauf“, sagt die Rechtsanwältin. Bespala dokumentiert akribisch die Kriegsverbrechen der russischen Armee und der Militärs der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Die Akten von fast 300 derartigen Verbrechen liegen in dem Schrank neben ihrem Schreibtisch. Sie werden unter anderem weitergeleitet an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Damit die Täter irgendwann für ihre Taten verurteilt werden können. In Den Haag werden auf Basis von Ermittlungen bereits Anklagen gegen Russland vorbereitet.

Das Exhumieren von Leichen dient dazu, die Verbrechen genau zu rekonstruieren (Foto: Wojciech Grzedzinski/For The Washington Post via Getty Images)

Graben für die Gerechtigkeit: Das Exhumieren von Leichen dient dazu, die Verbrechen genau zu rekonstruieren

(Foto: Wojciech Grzedzinski/For The Washington Post via Getty Images)

„In den von Russland besetzten Gebieten sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Personen, die aus russischer Sicht illoyal sind, werden ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, misshandelt und gefoltert“, sagt Bespala. Noch immer werden in Charkiw Menschen durch russische Raketen getötet. „Mal sind es zwei, mal sind es fünf, mal sind es zehn Tote“, so die Anwältin. „Und nun fürchten wir, dass es noch schlimmer wird.“

Gegründet wurde die Menschenrechtsgruppe Charkiw bereits vor 30 Jahren, kurz nach dem Ende der Sowjetunion. Bei ihrer Arbeit scheut sie sich bis heute auch nicht vor Kritik an der eigenen Regierung. So hatte sie vor dem Krieg wiederholt die restriktiven ukrainischen Mediengesetze und den Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft für Gegner von Präsident Selenskyj kritisiert. Mit dem Krieg aber ist die Dokumentation der unzähligen Menschenrechtsverbrechen der russischen Invasoren in den Fokus gerückt.

So schwer es den Menschen fällt, über das Erlebte zu sprechen, so wichtig sind ihre Informationen

Jeden Tag berät Bespala im Durchschnitt zwanzig Menschen. Sie kommen zu ihr, weil sie ihr Haus verloren haben, in Kriegsgefangenschaft gefoltert wurden, Verwandte vermissen oder vergewaltigt wurden. So schwer es den Menschen fällt, über das Erlebte zu sprechen, so wichtig sind ihre Informationen – über den Zeitpunkt und den Hergang der Taten, über ihre Zeit in Gefangenschaft.

Immer wieder nennen ehemalige Kriegsgefangene Namen von anderen Kriegsgefangenen, mit denen sie eine Zelle geteilt haben. Diese Daten geben Bespala und andere Juristen der Organisation weiter an das Rote Kreuz, die ukrainischen Behörden und russische Regierungsstellen, um die Vermissten aufzuspüren. Sobald man aus Russland eine Bestätigung zu einem konkreten Gefangenen habe, so Bespala, könne man davon ausgehen, dass dieser Gefangene am Leben bleibe.

Neben der psychologischen Hilfe unterstützt die Menschenrechtsgruppe Kriegsopfer auch materiell: Man verteilt Wärmedecken, warme Unterwäsche, Powerbanks, Taschenlampen, Hygieneartikel, Zelte, kleine Campingkocher und Medikamente. Angehörige von Kriegsgefangenen, von Getöteten und Opfer von Gewalt erhalten Geld. Zwar gibt es vom Staat Hilfen für ehemalige Kriegsgefangene und für Menschen, die ihr Eigentum verloren haben, doch diese Hilfen gibt es laut Bespala nicht automatisch, sie müssen beantragt werden. Auch dabei hilft sie den Betroffenen.

bespala_tamila.jpg

Tamila Bespala
Die Anwältin Tamila Bespala dokumentiert Kriegsverbrechen

Der Aktenberg in ihrem Büro, der bald die Basis für die Verurteilung von Kriegsverbrechern bilden soll, wird mit jedem Tag größer. Über 9.000 Kriegsverbrechen befinden sich aktuell in den Unterlagen der Juristinnen und Juristen in Charkiw. Während viele Informationen aus Datenschutzgründen nicht öffentlich sind, führen sie mit einem kleineren Kreis von Opfern der Gewalt Interviews über die erlebten Verbrechen, die dann mit deren Einverständnis in mehrere Sprachen übersetzt und auf YouTube veröffentlicht werden.

In den 30 Jahren ihres Bestehens hat sich die Gruppe einen guten Ruf erarbeitet und daher keine Schwierigkeiten, Projektgelder zu erhalten. Die kommen unter anderem von der Europäischen Union, der tschechischen NGO „People in Need“, dem Prague Civil Society Centre, USAID oder auch dem Danish Institute Against Torture.

Nach Russlands Überfall am 24. Februar 2022 schlossen sich mittlerweile 20 ukrainische Menschenrechtsgruppen unter dem Titel „Tribunal for Putin“ zusammen, um die von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe gestartete regionale Dokumentierung russischer Kriegsverbrechen landesweit umzusetzen. In einer gemeinsamen Datenbank haben sie rund 33.000 Verbrechen dokumentiert. Davon veröffentlichen sie einen Teil auf einer gemeinsamen Plattform im Internet. Hier finden sich Artikel, kurze Videos und aktuelle Statistiken über dokumentierte Kriegsverbrechen.

Damit diese Sammlung noch umfangreicher wird, es irgendwann Gerechtigkeit gibt und die Welt erfährt, was in der Ukraine geschieht, fährt Bespala mehrmals im Monat in umliegende Dörfer und Städte, die vor noch nicht allzulanger Zeit von der russischen Armee besetzt waren. Und hört sich dort geduldig an, welches Grauen die Menschen erlebt haben.

Titelbild: Metin Aktas/Anadolu Agency via Getty Images

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.