Zehn Jahre macht meine Schwester jetzt schon denselben Harry-Potter-Persönlichkeitstest. Er imitiert den magischen Zauberhut, den alle Schüler:innen in ihrem ersten Hogwarts-Jahr einmal aufsetzen müssen. Der Hut erkennt ihre Persönlichkeit, um sie auf eines der vier Häuser aufzuteilen. Er irrt nie. Zehn Jahre lang sei sie immer eine „Ravenclaw“ gewesen, sagte meine Schwester und machte den Test noch einmal. Sie füllte die Fragen aus wie immer. Doch plötzlich stand da: „Hufflepuff“.
„Ich bin soft geworden“, ruft sie mit gespielter Empörung. Und noch mal, lauter: „SOFT!“ Als sie sich beruhigt hatte, lachte sie. „Aber wenigstens nicht Gryffindor.“ Die hätten nämlich gar keine Persönlichkeit.
Damit zu einer der ältesten Fragen der Menschheit: Wer zum Teufel bin ich?
Das Ich ist etwas Wunderschönes, Wildes, ein massiver Brainfuck. Warum handeln wir, wie wir handeln? Warum denken wir, wie wir denken? Wir können mit unserem Verstand nicht verstehen, wie unser Verstand funktioniert. Dass wir das wissen, unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen auf der Erde. Und ist eine elementare Frage, nicht nur für uns selbst, sondern auch für die um uns herum.
Die Vermessung des Ich war schon vor Tausenden von Jahren der Wunsch vieler Menschen. Glaubt zumindest John Rauthmann. Er ist Professor an der Universität Bielefeld. Dort untersucht Rauthmann, was die Persönlichkeit eines Menschen ist und wie sie sich formt. Für ein besseres Miteinander sei es schon immer nötig gewesen, sich und seinen Platz in der Gruppe zu finden, sagt er. Um Allianzen zu schmieden, um sich fortzupflanzen, um zu überleben, vielleicht sogar: um glücklich zu werden.
Carl Gustav Jung hatte das längst erkannt, als er 1921 versuchte, die verschiedenen Persönlichkeiten zu systematisieren. Der Psychoanalytiker veröffentlichte eine Abhandlung, in der er die Menschen in „psychologische Typen“ unterteilte. Jung war fasziniert von Mythologie und Übernatürlichem. Es durchsetzt seine ganze Arbeit, weshalb ihn schon Zeitgenossen als unwissenschaftlich kritisierten. Jung beendete seinen Aufsatz mit einem Disclaimer:
„In the foregoing descriptions I have no desire to give my readers the impression that such pure types occur at all frequently in actual practice.“
Psychologieprofessor Rauthmann sagt: „Wenn man Jungs Einteilung übernimmt, kann man gleich die Biologie aus dem 13. Jahrhundert übernehmen.“
Mehr als 20 Jahre nachdem Jung seine „psychologischen Typen“ skizzierte, machten zwei US-Amerikanerinnen genau das. Und formten einen der beliebtesten Persönlichkeitstests der Gegenwart.
Mit dem Myers-Briggs-Typenindikator (MBTI) arbeiten 88 der 100 größten Unternehmen der Welt. Sagt zumindest die Myers-Briggs Company, das Unternehmen hinter dem Test. Der MBTI trägt dazu bei, zu entscheiden, wen sie einstellen, wen sie befördern, wer woran arbeitet, wer zu Teams zusammenkommt. Selbst das US-Militär gilt als treuer Nutzer des MBTI. Ähnlich in Deutschland. Laut einer Umfrage der Ruhr-Universität Bochum verwenden 43 Prozent der 500 größten Unternehmen des Landes den MBTI.
ENFP, ISTJ, WTF?
Jedes Jahr machen den Test um die zwei Millionen Menschen. Der Myers-Briggs Company bringt das etwa 20 Millionen Dollar Umsatz pro Jahr: Der Original-MBTI ist kostenpflichtig. Weshalb es mittlerweile viele kostenlose Kopien gibt, die die Persönlichkeitstypen zum Teil anders bezeichnen:
INTJ – oder der „Architekt“,
ENFP – oder der „Aktivist“
und so weiter.
Inzwischen packen viele ihren Persönlichkeitscode sogar ins Tinder-Profil. Und tatsächlich kommt das Dating der ursprünglichen Absicht des MBTI noch am nächsten. Die Idee für den Test kam Katharine Cook-Briggs, als sie den späteren Ehemann ihrer Tochter, Isabel Briggs-Myers, kennenlernte. Sie verstanden sich nicht. Also versuchten Mutter (Landwirtschaftsexpertin) und Tochter (Politikstudentin) herauszufinden, warum.
Sie ließen sich von Jungs „Psychologischen Typen“ inspirieren und teilten das menschliche Verhalten in vier Dimensionen. Denen wiesen sie je zwei Attribute zu – wer das eine ist, kann nicht gleichzeitig das andere sein.
Dimensioniert wird man beim Original-MBTI und seinen Kopien über einen Bogen mit Entweder-oder-Fragen. In zehn bis fünfzehn Minuten hat man sich durchgeklickt. Der Test, sagt Rauthmann, könne also nur zeigen, wie man sich selbst sieht oder, noch genauer, wie man sich sehen möchte.
Die große Frage nach dem Ich, heruntergebrochen auf ein paar Dutzend Fragen, eine von 16 Buchstabenkombinationen und Beschreibungen mit genau der horoskopischen Prise Mehrdeutigkeit, dank derer sich auch jede und jeder identifizieren kann.
„Aktivisten sind mehr als nur gesellige Publikumslieblinge. Ihre visionäre Natur ermöglicht es ihnen, mit Neugier und Energie zwischen den Zeilen zu lesen.“
Mega. Wer kann da etwas dagegen haben, so zu sein? „Barnum-Aussagen“ nennt das der Psychologe Rauthmann. Lustige Promi-Vergleiche liefert die Website gleich dazu. Quentin Tarantino zum Beispiel soll auch „Aktivist“ sein, oder Spiderman.
Wer bin ich? Wann bin ich?
Das Prinzip hat viele Nachahmer gefunden. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) rät auf Anfrage grundsätzlich vom MBTI und ähnlichen Tests ab. Die Ergebnisse seien „wissenschaftlich nicht fundiert“, C.G. Jungs Typenlehre eine veraltete und empirisch nicht geprüfte Theorie. Etwa die Hälfte der Menschen, die den MBTI machen, haben wenige Wochen später ein anderes Ergebnis. Das zeigten Studien schon in den Siebzigern.
Nur logisch, findet Professor Rauthmann. Die Persönlichkeit sei zwar relativ stabil, ändere sich aber trotzdem ständig. „Die Persönlichkeit ist ein Spektrum“, sagt Rauthmann. Sie steht im Austausch mit der Welt, sie ist wie ein Mischpult, auf dem sich die Regler permanent verschieben.
Beispiel. Wir können bei Freunden unglaublich extrovertiert sein, aber im Job stumm in der Ecke sitzen. Wir können rauchen und Medizin studieren. Wie wir sind, kommt auf die Mitmenschen an, auf die Tageszeit, auf die Aufgabe, vor der wir stehen. Wir können eine Entscheidung rational durchdenken und am Ende trotzdem nach dem Bauchgefühl handeln.
Rauthmann spricht deshalb nicht von „einer Persönlichkeit“, sondern von „Persönlichkeitszuständen“, die unser Ich ausmachen. Und das nicht nur von Situation zu Situation, sondern über das ganze Leben hinweg. Meistens nebenbei, sagt Rauthmann, unterbewusst, bis ins hohe Alter. Wir sind also immer wir selbst, aber immer auf eine andere Weise. Wie gesagt: ein massiver Brainfuck.
Warum also ist die Testerei so beliebt? Woher kommt der Wunsch, sich zu verstehen?
Eine der vielen Antworten: Das Gehirn ist darauf konditioniert, Muster zu finden. Tests wie der MBTI sparen dabei Zeit, sind erschwinglich und treffen (scheinbar) tiefgründige Aussagen. Sie liefern, gerade in Zeiten, in denen eine Vermessung in Zahlen und Kennziffern Rechtmäßigkeit erzeugen soll, nicht nur Entscheidungshilfen – sondern oftmals den Eindruck einer objektiv richtigen Entscheidung. Unternehmen stecken Mitarbeitende in Schubladen und Singles ihre potenziellen Partner:innen ebenso, weil sie die Übersicht behalten und „das Richtige“ tun wollen.
Rauthmann: „Die Frage ist eben: Wie groß und differenziert ist diese Schublade? Schnelle Persönlichkeitsselbsttests wie der MBTI arbeiten eben vor allem mit Vorurteilen und Stereotypen.“
Auf den ersten Blick tut das nicht weh. Aber vielleicht auf den zweiten. Wenn man deshalb nicht befördert wird zum Beispiel oder die potenzielle Liebe des Lebens wegwischt. In der Liebe, sagt Rauthmann, seien gemeinsame Werte und Interessen sowieso wichtiger als die Persönlichkeit. Als Assessment-Center für die Partner:innenwahl empfiehlt Rauthmann: das erste Date.
Illustration: Renke Brandt