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„Fair sind die Wahlen schon jetzt nicht mehr“

Die Regierung Erdoğans wird nach den Erdbeben scharf kritisiert. Was bedeutet die Katastrophe für die Wahlen? Und können in den Erdbebengebieten überhaupt alle wählen? Die Türkei-Expertin Sinem Adar erwartet turbulente Tage

Türkei, Wahl

fluter.de: Am Wochenende wählt die Türkei ihren Präsidenten und das Parlament. Warum sollte man diese Wahlen auch in Deutschland genau verfolgen, Frau Adar?

Sinem Adar: Ich glaube, um die Bedeutung in Deutschland klarzumachen, könnte man reinen Gewissens den Begriff „Schicksalswahl“ nutzen. In 20 Jahren unter der AKP von Recep Tayyip Erdoğan hat die Türkei einen Prozess des demokratischen Rückschritts erlebt. Ich sehe in dieser Wahl die vorerst letzte Gelegenheit, um den Autokratisierungstrend zu beenden.

Das Erdbeben und seine Folgen sind in der Türkei allgegenwärtig. Die Regierung wird für ihr Krisenmanagement hart kritisiert. Wie wirkt sich das auf den Wahlkampf aus?

Ich habe erwartet, dass sich die Erdbeben negativ auf die Umfragewerte der Regierung auswirken. Den zuverlässigeren Umfragen nach ist das aber nicht der Fall. Dabei hat die Reaktion der Regierung in vielerlei Hinsicht gezeigt, was in den vergangenen 20 Jahren falsch gelaufen ist. Sie hat solchen Katastrophen kaum vorgebeugt, obwohl Experten seit Jahren vor starken Beben warnen. Sie hat zu spät reagiert und die Hilfen entlang ihrer parteipolitischen Linien verteilt.

Was muss passieren, damit in den zerstörten Gebieten überhaupt regulär gewählt werden kann?

Ich denke, die Mobilität der Wähler ist gerade das größte Problem. Viele Erdbebenopfer mussten in andere Städte umziehen, sind also nicht mehr dort, wo sie als registrierte Wähler abstimmen dürfen. Es gibt einige Bürgerinitiativen, die Spenden sammeln, damit sie zurückkehren und wählen können. Davon abgesehen ist die Wahl nicht nur in den Erdbebengebieten unsicher: Wir beobachten, dass die Regierung versucht, die Oppositionsparteien, ihre Führer und Mitglieder einzuschüchtern. Die nächsten Tage werden turbulent.

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Haben die Erdbeben und die schleppende Reaktion der Regierung zur Einigung der Opposition beigetragen?

Ja und nein. Kemal Kılıçdaroğlu, der Oppositionsführer und Parteichef der CHP, und Meral Akşener, die als Vorsitzende der sogenannten „Guten Partei“ auch dem Oppositionsbündnis angehört, haben sehr unterschiedlich auf die Katastrophe reagiert. Kılıçdaroğlu hat – ziemlich überraschend – jede Kommunikation mit der Regierung verweigert und ist die staatlichen Institutionen für ihr zögerliches Krisenmanagement angegangen. Akşener dagegen hat Erdoğan angerufen, um eine Zusammenarbeit zu arrangieren. Wenig später hat sich Akşener aus dem Oppositionsbündnis zurückgezogen – angeblich vor allem, weil man sich nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigen konnte. Zwei oder drei Tage später ist sie aber in das Oppositionsbündnis zurückgekehrt, und seitdem steht sie im Bündnis fest hinter Kılıçdaroğlu.

Kılıçdaroğlu geht als Präsidentschaftskandidat der Opposition in die Wahlen. Es ist ihm gelungen, sechs Parteien in der „Allianz der Nation“ zusammenzubringen. Diese Allianz tritt gegen das Bündnis „Volksallianz“ an, dem auch Erdoğans AKP angehört. Wie bewerten Sie Kılıçdaroğlus Bündnis?

Die „Allianz der Nation“ ist sehr heterogen, da sitzen Sozialdemokraten, Nationalisten und Konservative neben Liberalen. Es ist nicht einfach, Parteien mit so unterschiedlichen ideologischen Hintergründen zusammenzubringen. Aber es geht ja in der politischen Situation und im Präsidialsystem der Türkei kaum anders.

Das Wahlsystem verlangt eine absolute Mehrheit bei der Wahl des Präsidenten: Ein Kandidat braucht dabei mindestens 50,1 Prozent der Stimmen, um im ersten Wahlgang gewählt zu werden.

Die Präsidentschaftskandidaten werden direkt von der Bevölkerung gewählt – und keiner könnte in der Türkei ohne die Stimmen von Wählern anderer Parteien die absolute Mehrheit erreichen. Heterogene Wahlbündnisse wie die „Allianz der Nation“ sind also eine unbeabsichtigte Folge dieses Systems. Das Präsidialsystem wurde 2018 eingeführt, also unter Erdoğan und der AKP. Interessanterweise schadet es ihnen selbst: Umfragen zufolge hat sie immer noch die meisten Stimmen, in einem parlamentarischen System würde die AKP also sehr wahrscheinlich die stärkste Kraft. Selbst wenn sie eine Regierungskoalition bilden müsste, wäre sie in der die stärkste, also tonangebende Partei.

Was glauben Sie: Können alle Menschen in der Türkei frei wählen?

Frei vielleicht. Aber fair sind diese Wahlen schon jetzt nicht mehr. Um nur ein Beispiel zu nennen: 90 Prozent der Medienlandschaft werden von der regierenden AKP kontrolliert. Die regierungsnahen Medienkanäle betreiben jede Menge Propaganda.

Würde Erdoğan zurücktreten, wenn er die Wahlen verliert?

Je größer der Abstand beim Wahlergebnis, desto eher erkennt er das Resultat an. Aber ich bin im Moment vorsichtig optimistisch. Die Regierung ist schon länger geschwächt. Das hat das Katastrophenmanagement nach dem Erdbeben nur noch deutlicher gemacht.

Dr. Sinem Adar arbeitet in der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Türkei, vor allem zur türkischen Innenpolitik, zur europäisch-türkischen Migrationszusammenarbeit und zur türkischen Diasporapolitik.

Titelbild: Ozan Kose/AFP via Getty Images

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