Thema – Identität

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What the Fell?

Endlich mal nicht wir selbst sein müssen, sondern ein Fuchs, ein Otter oder ein Tiger. Im Furry Fandom schlüpfen Menschen in flauschige Tierkostüme und stellen so Fragen nach unserer Identität und der Flucht daraus

Furries

Es ist ein Sonntag Anfang Mai. Die Sonne steht senkrecht über dem Rosengarten im Münchner Westpark. Heiser bellend jage ich einem Zitronenfalter nach, der nervös vor meiner Schnauze herumflattert, und muss dabei aufpassen, dass ich das Stöckchen nicht verliere, das ich im Unterholz gefunden habe und das seither zwischen meinen Zähnen klemmt.

Ich bin ein Fuchs. Ein domestizierter zwar auf zwei Beinen, aber doch ein Fuchs. Mit Fell, spitzen Zähnen, überdimensionalen Pfoten und einem Schwanz, der es in sich hat. Und an diesem Sonntag tolle ich gemeinsam mit meinen Freunden Wolf, Otter, Hund und einem weiteren Fuchs über Gänseblümchenwiesen, vorbei an Kaffeeausflüglern, an Kindergeburtstagen und Hochzeitsgesellschaften. Wenn die Leute uns ansprechen – meist freudig überrascht –, dann antworte ich nicht in Worten, sondern mit dem seltsam hellen Fuchsbellen, wie ich es in Fuchs-Dokus gehört habe. Die Leute lachen dann, den Leuten gefällt das. Wann sieht man schon mal ein Rudel wilder, wenngleich handzahmer Tiere in einer mitteleuropäischen Großstadt? Ein Mädchen zieht mich am Schweif. Ich heule auf.

 Vor Feierabend: Förster. Nach Feierabend: Fuchs

Eine Stunde später: Um mich herum steht ein Dutzend junger Männer. Spotter sagt man offiziell, Tierpfleger nennen sie sich im Spaß. Sie haben uns fünf Wildtiere während des Streifzugs durch den Rosengarten begleitet. Haben uns durch Sangria-Strohhalme Apfelsaftschorle eingeflößt, damit wir in der Skianzughitze unter den Fellkostümen nicht umkippen, und uns um Hindernisse wie Sträucher oder Parkbesucher herumgelotst, die wir mit unserem eingeschränkten Sichtfeld nicht direkt wahrgenommen haben. Unmittelbar neben mir stehen Khaleta, Kairan, Fuchsi und Luke. Als Menschen haben sie andere Namen. Als Menschen sind sie Programmierer, Elektriker, Landwirt, angehender Förster. Heute sind sie: Wolf, Otter, Hund, Fuchs. Sie halten ihre Köpfe unter dem Arm. Manche werden sie gleich in großen silbernen Boxen verstauen, wie Rockmusiker ihre Gitarren nach einem Konzert.

Sie alle sind Furrys (was man auf Deutsch vielleicht mit „Pelzis“ übersetzen kann). Zu manchen Stunden, an manchen Tagen schlüpfen die vier in ihre Tier-Alter-Egos; meistens im Internet und in selbst gezeichneten Comics, seltener im Real Life. Fursonas sagen sie dazu (in Anlehnung an Persona). Sie werden dann neue Ichs. Bessere Ichs. Vieles ist besser, wenn man ein sprechendes Tier auf zwei Beinen sei, sagen sie. Wenn man ein Fell hat, an das man sich schmiegen kann. Und Zähne, die einen beschützen. „Was gibt es Faszinierenderes, als eine Parallelwelt zu schaffen, in der Tierwesen und Menschen in einer Gesellschaft zusammenleben?“, fragt Khaleta, der Wolf, Vorstand der Münchner Furs.

Faszination für alles tierisch Anthropomorphe – das heißt: die Vermenschlichung von Tieren – gibt es schon recht lange, zum Beispiel im alten Ägypten. Den Anfang der Geschichte der Furrys datiert man heute auf den Beginn der 1980er-Jahre in den USA. Auf Comic- und Sci-Fi-Conventions fanden sich Leute zusammen, die ein besonderes Interesse an menschlichen Tierkörpern hatten. An Mickymäusen, Donald Ducks und Figuren aus anderen Disney-Filmen. Sie zeichneten Comics. Entwarfen Avatare. Und irgendwann fragten sich manche: Warum werden wir die Charaktere nicht selbst? Sie fingen an, Kostüme zu basteln, die oft Tausende Euros kosten. Und so entstand ein Fandom, eine Subkultur mit Zehntausenden Anhängern weltweit.

„Seit ich Furry bin, mache ich mir zum ersten Mal Gedanken
darüber, wer ich sein will und wie“

Nach unserem Umzug durch den Westpark sitzen wir an einem langen Holztisch in einem Burgerladen. Die Köpfe sind verstaut. Die jungen Männer um mich sind anders als die jungen Männer, mit denen ich aufwuchs. Die droschen sich zur Begrüßung so fest auf den Rücken, dass einem schwindelig wurde, und prahlten damit, wie viele Liter Bier sie in sich hineinkippen konnten. Diese jungen Männer hier wirken schüchtern. Sie reden leise, wenn sie sprechen. Sie lassen einander ausreden. Sie zeigen sich ihre selbst entworfenen Tierfiguren auf den Smartphones, kichern dabei. Legen den Kopf auf die Schulter des Nebenmannes. „Wir müssen da keinen Hehl draus machen“, sagt Khaleta, während er mir den Entwurf seines Avatars, eines rostrot-grauen Löwen zeigt. „Das Fandom ist weird. Und es ist nicht verwunderlich, dass viele von uns erst in einer so offenen, toleranten Community wie den Furrys Anschluss gefunden haben.“

Aber wo sind die Frauen? „Ich glaube, Frauen suchen das nicht so, vielleicht weil sie anders sozialisiert sind.“ Noch immer gebe es Rollenbilder in dieser Gesellschaft, die besagten, wie ein Mann zu sein habe: männlich, stark und ohne Emotionen. Und vielen falle es leichter, daraus auszubrechen, wenn sie ein Fuchs sind oder ein Paradiesvogel oder ein plüschiger Drache. Das Verspielte, der Körperkontakt. Jemanden umarmen, ohne verurteilt zu werden. „Viele haben hier zum ersten Mal so was wie Gemeinschaft gefunden“, sagt Khaleta.

Da ist Fuchsi, der Hund, 25. Er ist Landwirt, kommt aus dem tiefsten Oberbayern. Eigentlich ist er die ganze Woche damit beschäftigt, sich um seine Schafe, Schweine, Kühe zu kümmern. „Da ist keine Zeit für Abschalten oder für Spielen. Wenn ich den Fursuit überziehe, dann fällt das alles von mir ab“, sagt Fuchsi, und: „Ich war schon in der Schulzeit großer Fan von Werwölfen und habe mir vorgestellt, wie es wäre, selbst einer zu sein.“

Da ist Ren, 21, ein Sci-Fi-Drache, der darauf spart, sich einen Fursuit zu basteln, der viele Tausend Euro kosten soll. Er sagt: „Für mich ist Furrysein persönliche Entfaltung. Ich habe viel Mobbing erfahren. Und ich hatte immer das Gefühl: Du bist nicht genug! Ich habe vorher nie gedacht, dass ich überhaupt wer bin und überhaupt irgendwie auftreten kann – sondern nur, dass ich eigentlich gar nicht existieren sollte. Seit ich Furry bin, mache ich mir zum ersten Mal Gedanken darüber, wer ich sein will und wie.“

Und dann ist da noch Kairan, der Otter, 42, das älteste Tier. Kairan kommt aus einer Zeit, in der die Furrys noch über Chatforen und ICQ und nicht über Telegram kommunizierten. Er arbeitet als Elektrotechniker, hat leicht ausrasierte graue Schläfen, einen bayerischen Akzent und mag Züge. Kairan war ein Kind, das nicht viele Freunde hatte, aber viel Fantasie. Das fünfmal im Kino den Film „König der Löwen“ sah und sich vorstellte, wie es wäre, selbst mit all den Tieren sprechen zu können. Und dann entdeckte Kairan im Internet, dass es in den USA ein Furry Fandom gab, und sogar Messen in Europa. Und weil Kairan den Film „Tarka, der Otter“ so gern mochte, entschied er sich 2003, ein Otter zu werden. „Der Eurasische Otter hat viel von dem, was ich habe. Eher etwas einzelgängerisch, ein bisschen moppelig, verspielt und nicht ganz so grazil wie die anderen Tiere“.

Laut einer Studie ordnen sich 80 Prozent der Furrys in den USA dem LGBTQ+-Spektrum zu

Und Spaß macht ihm auch, dass er als Kairan kein eindeutig zuordenbares Geschlecht hat. Kairan, der Otter, kann sich je nach Stimmung überlegen, ob er weiblich oder männlich auftritt. „Ich weiß nicht, ob das ein Zufall ist“, sagt Kairan. „Aber einige Otter, die ich kenne, wechseln ihr Geschlecht.“ Und so ist Kairan, der Otter, auch ein Weg, sich auszuprobieren.

Kairan ist damit nicht allein. Laut einer Studie ordnen sich 80 Prozent der Furrys in den USA dem LGBTQ+-Spektrum zu. Mehr als zwölf Prozent geben an, trans zu sein (gegenüber etwa 0,6 Prozent in der Gesamtgesellschaft). Viele Transfurrys berichten, dass sie sich in ihrer Tiergestalt im anderen Geschlecht ausprobieren konnten, bevor sie das als Mensch taten.

Kairan bezeichnet sich nicht als trans. Aber neulich hat er mal ausprobiert, wie es ist, mit Nagellack zur Arbeit zu gehen. „Und die Damen am Empfang haben gleich gesagt, dass ein paar Töne heller mir auch gut stehen würden ... Ich bin da erst ganz am Anfang meiner Entwicklung.“ Im letzten Jahr hat Kairan einen ersten Schritt gemacht und sich als Furry geoutet. Lange Zeit war da die Angst, dass die Kollegen urteilen oder Kairan und Furry im Internet eingeben und Kairan für einen Verrückten halten oder ihn feuern könnten. „Aber als der eine Kollege offen erzählt hat, dass er in der Münchner SM-Szene unterwegs ist, und ein anderer, dass er gern Latex mag, da wollte ich mich nicht länger verstecken.“

fluter-Cover Spiele

Dieser Text ist im fluter Nr. 87 „Spiele” erschienen

Als ich nach meinem Fuchs-Tag am Abend im Zug sitze, kommt mir eine Szene aus Wes Andersons Spielfilm „Fantastischem Mr. Fox“ in den Sinn: Ganz am Ende sitzen Mr. Fox und drei seiner Freunde auf einem Motorrad, am Horizont entdecken sie den Umriss eines geisterhaften schwarzen Wolfs. „Woher kommst du? Was machst du hier?“, ruft Mr. Fox. Der Wolf bleibt stumm. Schließlich hebt Mr. Fox die Pfote, ballt sie zur Faust. Der Wolf hebt die seine und ballt sie auch. „Was für ein wunderschönes Wesen“, raunt Mr. Fox. Dann verschwindet der Wolf am Horizont.

Und vielleicht, denke ich mir, ist es genau das, was das Furry Fandom ausmacht: Hier findest du mit Sicherheit jemanden, der dich irgendwie versteht.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.