Worum geht es?
Das Leben im Berliner Bezirk Wedding ist tough und für Hazal auch ganz schön frustrierend. Die Suche nach einem Ausbildungsplatz ist schwierig. Ihre Mutter lässt Hazal die Enttäuschung darüber spüren, dass sie es nicht an die Uni schaffen wird wie ihre große Schwester Semra. Noch mehr Ärger droht, als Hazal von einem Ladendetektiv in einer Drogerie hochgenommen wird. Und zu allem Überfluss kommt sie an ihrem 18. Geburtstag nicht in den coolen Underground-Club, in dem sie feiern will, zu aufgebrezelt ist ihr Outfit. Hazals ganze Wut entlädt sich kurz danach, als ein Student, Typ strohblonder Boulderhallenstammgast, sie in einer leeren U-Bahn-Station dumm anbaggert. Mit ihren beiden Freundinnen verprügelt Hazal ihn brutal und flieht anschließend vor einer möglichen Festnahme nach Istanbul; zum deutlich älteren Mehmet, den sie bisher nur von täglichen flirty Videotelefonaten kennt.
Worum geht es eigentlich?
Ums Erwachsenwerden; darum, seinen Platz in der Welt zu finden. Bloß wird dieser schwierige Prozess nicht in der üblichen Form einer hindernisreichen, aber letztlich erfolgreichen Selbstfindungs- und Heldinnenreise erzählt (wie etwa 2020 im Berlinale-Beitrag „Kokon“). „Ellbogen“ – die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Fatma Aydemir aus dem Jahr 2017 – ist vielmehr eine Coming-of-Age-Dystopie: Das Leben, so scheint es, besteht vor allem aus Enttäuschungen. Das erfährt Hazal auch in Istanbul, wo sie als Almancılar, als „Deutschländerin“, eine Außenseiterin ist.
Wie wird es erzählt?
Rastlos und leicht gestresst, so wie Hazals Grundstimmung. Die Handkamera agiert in permanenter Unruhe und ist oft sehr nah dran an ihr. Mit 86 Minuten Länge ist der Film kompakt, so wird nicht jede Szene bis ins Letzte auserzählt, mitunter gibt es harte, schnelle Handlungssprünge – Mitdenken ist angesagt. Das gilt auch für die oft subtile Erzählweise von Regisseurin Aslı Özarslan: etwa als Hazals Vor- und Nachname von der deutschen Autokorrektur in einem Word-Dokument verändert werden. Das Gefühl, einfach nicht dazuzugehören, ist hier in einem Augenblick verdichtet.
Wie viel Buch steckt im Film?
Die größte Stärke von Fatma Aydemirs Romans ist seine Sprache, die gleichzeitig Hazals Sprache ist, denn er ist in Ichform erzählt. Und was Hazal da von der ersten Seite an in die Welt haut, ist so kraftvoll, so kompromisslos, so derbe, aber auch pointiert und voller kluger kleiner Beobachtungen, dass es einem die Beine wegzieht. Diese Ebene lässt sich nur schwer in einen Film übertragen, und die Verfilmung hat auch konsequent auf eine Zwischenlösung in Form von eingestreuten inneren Monologen verzichtet. So sehen wir Hazals Kopf zwar sehr oft von nahem, aber was in seinem Inneren vorgeht, erfahren wir nie wirklich. Auch wenn Melia Kara mit ihrem Spiel viel von der unterdrückten Wut ihrer Figur vermittelt – insgesamt wirkt die Film-Hazal passiver als die Buch-Hazal, erscheint mitunter eher dickköpfig und realitätsverweigernd als kompromisslos und smart.
Lohnt es sich?
Auch wenn der Film einen nicht so umhaut wie das Buch: ja. „Ellbogen“ ist solider deutscher Arthousekino-Stoff: gut gespielt, kurzweilig inszeniert, dazu konsequent aus junger, weiblicher, migrantischer Perspektive erzählt. Aber als Kinofilm im Jahr 2024 nun auch nicht herausragend, erst recht nicht im Umfeld der Berlinale, wo wie gewohnt sehr viele Filme die Perspektiven von marginalisierten Gruppen und Personen einnehmen.
Good Job!
In keinem deutschen Coming-of-Age-Film darf eine Szene fehlen, in der die Hauptperson in einem Nachtclub zu elektronischer Musik tanzt. Und fast immer wirkt das ziemlich gezwungen, selten wird das Gefühl, sich in der Musik zu verlieren, überzeugend transportiert – es ist fast so schwer und undankbar zu inszenieren wie eine gute Sexszene. Özarslan aber gelingt es. So wie sich die Musik langsam steigert, verbindet sich in einer Istanbuler Nacht auch Hazal immer mehr mit den Menschen um sich herum, Menschen, die sie danach nie mehr wiedersieht. Ein seltener Moment der Leichtigkeit.
Harte Worte:
„Weißt du noch, was du werden wolltest, als du noch klein warst? Du wolltest Ärztin werden. Mama wollte immer, dass du Arzthelferin wirst. Aber du wolltest Ärztin werden“, sagt Semra einmal zu Hazal, um sie aufzumuntern. Die antwortet ihrer großen Schwester nur kühl: „Ich wollte keine Ärztin werden. Als ich klein war, wollte ich Popstar werden.“
Und sonst?
Schon Alfred Hitchcock war dafür bekannt, dass er in jedem seiner Filme irgendwann als Statist durchs Bild läuft – Cameo wird das genannt. Fatma Aydemir tritt nun in ihrer ersten Buchverfilmung ebenfalls kurz auf. Viel Spaß beim Suchen!
„Ellbogen“ hat auf der diesjährigen Berlinale Premiere gefeiert und ist ab dem 5. September in den Kinos zu sehen.
Fotos: ACHTUNG PANDA!