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Lass mal reden

Auf Pausenhöfen eskaliert die Debatte um den Nahostkonflikt schnell: Für viele Schülerinnen und Schüler ist das Thema ein persönliches. In den „Trialogen“ sollen ihre Sorgen und Ängste gehört werden

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Trialoge

Als Nadine Migesel und Shai Hoffmann die Regeln für die kommenden zwei Schulstunden verkünden, atmen die Jugendlichen kollektiv auf. „Lehrkräfte sagen bitte nichts“, stellen die beiden externen Referenten klar. Heute sollen die Schülerinnen und Schüler reden – und zwar über ihre Gefühle zum Nahostkonflikt. Und die, das wird schnell klar, sind stark am Goethe-Gymnasium in Frankfurt am Main. Mehrere Jugendliche, die an diesem verregneten Februartag in der großen Aula im Halbkreis sitzen, um miteinander ins Gespräch zu kommen, haben Verwandte in Israel oder in den Palästinensergebieten. Auch den anderen geht der Konflikt nahe. Einige der rund 50 Anwesenden haben Wurzeln in arabischen Ländern. Auf die Frage, was sie derzeit fühlen, lauten die Antworten: Wut, Enttäuschung, Angst, Ohnmacht.

Bei Romi* kommt noch Scham dazu. Scham darüber, dass sie sich hier in Deutschland zum Krieg zwischen Israel und der Hamas äußert, während ihre Familie in Haifa tagtäglich vom Krieg betroffen ist. „Als wir das letzte Mal telefoniert haben, wurde gerade Raketenalarm ausgelöst“, sagt sie und ihre Stimme bricht. Die Achtklässlerin ist eine der Jüngeren in der Aula, die meisten um sie herum sind schon in der Oberstufe. Sie ist Jüdin und wird heute in der Aula die Einzige bleiben, die sich als Jüdin zu Wort meldet. Als solche fühle sie sich in Deutschland verurteilt für die vielen zivilen Opfer im Gazastreifen: „Eine Freundin von mir wurde in den sozialen Medien sehr stark beleidigt, nur weil sie etwas auf Hebräisch geschrieben hat.“ Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland ist seit dem Terrorangriff am 7. Oktober 2023 deutlich gestiegen. Dass Jüdinnen und Juden auch hierzulande so viel Hass entgegenschlägt, erschöpfe sie und mache ihr Angst. Der wachsende Antisemitismus sowie antimuslimische Rassismus in Deutschland sind Themen, über die Nadine Migesel und Shai Hoffmann mit den Jugendlichen sprechen wollen.

Der 7. Oktober 2023

Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist erneut eskaliert, seitdem die islamistische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 mit Hunderten Kämpfern aus dem Gazastreifen nach Israel eingedrungen ist und Gräueltaten verübt hat, vor allem an Zivilisten. Dabei töteten sie nach israelischen Angaben mehr als 1.000 Menschen und verschleppten mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen. An keinem anderen Tag seit dem Holocaust wurden mehr Juden ermordet als am 7. Oktober.

Israel reagierte darauf mit massiven Angriffen und rückte mit Bodentruppen in den Gazastreifen ein. In dem Palästinensergebiet sind nach Angaben der Hamas seit Beginn der Angriffe Zehntausende Menschen getötet worden. Unter den andauernden Kämpfen leidet die Zivilbevölkerung im Gazastreifen extrem. Mehr als eine halbe Million Menschen im Gazastreifen sind den UN zufolge vom Hungertod bedroht.

Seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem anschließenden Krieg im Gazastreifen sind auch viele Jugendliche in Deutschland im emotionalen Ausnahmezustand. Offiziell leben mehr als 14.000 Menschen mit israelischer Staatsbürgerschaft in Deutschland – darunter auch Israelis mit arabischen Wurzeln. Die Zahl der Palästinenser wird insgesamt auf 175.000 bis 225.000 geschätzt. Die beiden Communitys blicken meist aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das, was aktuell in Israel und im Gazastreifen passiert. Für die einen verursacht die israelische Armee gerade unverhältnismäßiges Leid, manche sprechen sogar von einem „Genozid“ am palästinensischen Volk. Für die anderen geht es um die Anerkennung und den Schutz des israelischen Staates. Diese Sichtweisen prallen auch in den Schulen aufeinander.

Am Frankfurter Goethe-Gymnasium kam es nach dem 7. Oktober aufgrund der verschiedenen Positionen immer wieder zu Konflikten. Eine jüdische Schülerin wurde in den sozialen Medien heftig angegriffen. Raus kam das erst, als sie bei ihrer Klassenleiterin Hilfe suchte. In dem Moment sei ihr klar geworden, dass die Schule „noch mehr machen muss“, sagt Lehrerin Elke Heidl-Charmillon. Zum Beispiel eine Veranstaltung für alle Schülerinnen und Schüler, denen der Konflikt nahe geht und die bereit sind, darüber zu reden. Bislang hätten einzelne Lehrkräfte das Thema zwar im Unterricht behandelt oder dies angeboten.

Aber die Verunsicherung, wie man mit betroffenen Schülern über den Nahostkonflikt spricht, sei unter Lehrkräften sehr groß gewesen, auch bei ihr selbst. Deshalb sucht Heidl-Charmillon Hilfe von außen. Über einen Beitrag im Fernsehen stößt sie auf die Schulbesuche eines israelisch-palästinensischen Tandems.

„Manche Freundschaften pausieren, weil ich mich gegen Hass und für Menschlichkeit entschieden habe“

Die „Trialoge“ haben Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun initiiert. Der 42-jährige Hoffmann ist Jude mit israelischen Wurzeln und lebt in Berlin. Als er kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel Videoaufnahmen im Netz sieht, auf denen ein Berliner Lehrer und ein Schüler im Pausenhof wegen einer Palästinaflagge aufeinander losgehen, beschließt er zu handeln. Zusammen mit der Deutschpalästinenserin Jouanna Hassoun stellt er Bildungsvideos zusammen, die den Konflikt aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Daraus entstehen die Schulbesuche, bei denen die beiden mit Jugendlichen ins Gespräch gehen. An mehr als 60 Schulen bundesweit war Hoffmann bereits, aktuell sind weitere 300 Anfragen offen. Seine Tandempartnerin an diesem Tag ist Nadine Migesel. Die 29-Jährige ist Deutschpalästinenserin mit israelischem Pass und lebt in Köln. Sie hat gemeinsam mit anderen Aktivisten die Gruppe „Palestinians and Jews for Peace“ gegründet. Migesel und Hoffmann haben nahe Verwandte und Freunde in Israel, reisen mehrmals im Jahr dorthin. Seit der Konflikt eskaliert ist, liegen sie auch mit ihrer jeweiligen Community im Clinch. Aus deren Sicht zeigen sie zu viel Verständnis für die Gegenseite. Auch wenn Hoffmann, dass will er betont wissen, kein Verständnis für die Hamas zeigt. Wohl aber für die Palästinenserinnen und Palästinenser.

„Manche Freundschaften pausieren, weil ich mich gegen Hass und für Menschlichkeit entschieden habe“, erzählt Migesel den Schülerinnen und Schülern im Goethe-Gymnasium, und die nicken verständnisvoll. Eine Schülerin erzählt, dass sie mit ihrer besten Freundin nicht über Politik und den Nahostkonflikt sprechen könne. „Das Thema ist für uns alle nicht einfach“, sagt Hoffmann. Doch wenn man sich gegenseitig zuhören und respektvoll miteinander umgehen könne, sei ein Dialog zwischen den beiden Lagern möglich: „Dann ist das Demokratie at its best.“ Vorsichtshalber erwähnt Hoffmann aber, dass alle Aussagen bitte „im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ bleiben müssen. Die Sorge stellt sich hier als unberechtigt heraus. Die Frankfurter Schülerinnen und Schüler bleiben höflich, lassen einander ausreden. Die Positionen aber prallen hart aufeinander.

„Was fällt euch ein, wenn ihr an den Nahostkonflikt denkt?“, fragt Hoffmann und blickt in die Runde. „Zionismus“, sagt eine Schülerin. „Kriegsverbrechen“, eine andere. „Antisemitismus“, entgegnet ein Schüler. Vor allem das Vorgehen der israelischen Armee wird hitzig diskutiert. „Über 30.000 Menschen sind im Gazastreifen schon gestorben“, sagt Fatima*, und ihre Stimme überschlägt sich leicht. Sie nennt damit eine Zahl, die für Medien gerade nicht unabhängig überprüfbar ist. „Das sind doch nicht mehr nur ‚viele Opfer‘.“ Alle hätten sie Namen gehabt, alle ein Leben. Die Schülerin trägt Kopftuch und bezeichnet sich als deutsch-arabisch. Aus ihrer Sicht geschieht den Palästinensern großes Unrecht. Sie stellt klar: „Ich bin für Palästina, nicht Hamas.“

Jugendliche mit Wurzeln aus einem früheren Kolonialstaat blicken vielleicht anders auf den Konflikt als Enkel von NS-Zeitzeugen

Ähnlich äußern sich auch andere Jugendliche. Sie sind enttäuscht, wie „einseitig“ sich Deutschland zum Nahostkonflikt positioniere und wie wenig die Bundesregierung gegen das Leid im Gazastreifen unternehme. „Eure Gefühle sind berechtigt“, sagt Nadine Migesel. Für Jugendliche heute sei schwer erklärbar, dass die Sicherheit des israelischen Staates deutsche Staatsräson ist. Diesen Begriff benutzte schon Angela Merkel früher und auch Bundeskanzler Olaf Scholz in jüngster Vergangenheit. Damit ist gemeint, dass für Deutschland Israels Sicherheit nicht verhandelbar ist. „Wir alle müssen uns bewusst machen, dass in Deutschland sehr verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen“, so Hoffmann. So blickten Jugendliche mit Wurzeln aus einem früheren Kolonialstaat bestimmt ganz anders auf den Nahostkonflikt als die Enkel von NS-Zeitzeugen, für die die historische Verantwortung Deutschlands eine größere Rolle spielt.

Für das Goethe-Gymnasium in Frankfurt am Main ist das jedenfalls eine treffende Aussage – seine Schülerinnen und Schüler haben Wurzeln in über 60 Ländern. Die 18-jährige Kertina hört während des Gesprächs in der Aula nur zu, lässt die zu Wort kommen, die persönlich betroffen sind. Nach der Veranstaltung erzählt sie, warum auch sie der Nahostkonflikt so aufwühlt. „Ich spüre einen Druck, mich positionieren zu müssen.“ In den sozialen Medien komme man an dem Thema nicht vorbei. „Beide Lager erwarten, dass man ihnen recht gibt.“ In ihrem Bekanntenkreis gebe es mehr Verständnis für die Wut der palästinensischen Seite. Sie selbst blicke als Person of Color und Deutsche mit Migrationsgeschichte mit einer dekolonialen Perspektive auf die Welt. Sie könne die Kritik am Staat Israel, dem wegen der Besetzung des Westjordanlands und Ostjerusalems seit 1967 der Bruch des Völkerrechts vorgeworfen wird, nachvollziehen. Gleichzeitig sei ihr die Kritik manchmal zu radikal. Dass Jüdinnen und Juden für die Politik Netanjahus verantwortlich gemacht werden und sich auch hier in Deutschland nicht mehr sicher fühlen können, sei durch nichts zu rechtfertigen. Aber ebenso wenig, dass Muslime jetzt pauschal unter Antisemitismusverdacht stünden. „Es ist traurig, dass sich die beiden Seiten so unversöhnlich gegenüberstehen“, sagt Kertina. Die heutige Veranstaltung mache ihr aber Hoffnung, dass ein Dialog möglich sei.

Am Ende haben alle ziemlich ähnliche Gefühle zum Nahostkonflikt – egal auf welcher Seite sie stehen

Keine Selbstverständlichkeit. Bei manchen Schulbesuchen seien palästinensische Jugendliche schon aufgestanden und gegangen, erzählt Hoffmann. Für die Schülerinnen und Schüler am Goethe-Gymnasium haben er und Nadine Migesel aber nicht nur deshalb viel Lob übrig. „Sie waren sich nicht nur im Klaren über ihre Gefühle – sie konnten sie auch echt gut ausdrücken“, so Migesel. Gerade bei jüdischen Schülern, die ja im Vergleich zu den muslimischen meist in der Minderheit seien, wie auch hier am Goethe-Gymnasium, imponiere ihr dieser Mut. Umgekehrt fällt das Feedback der Schüler ebenfalls sehr positiv aus. So ein offenes Gespräch auf Augenhöhe, sagt eine Schülerin, hätte es mit einer Lehrkraft bestimmt nicht gegeben.

Dem stimmt sogar Lehrerin Heidl-Charmillon zu. Im Sommer jedenfalls seien weitere Workshops mit Expertise von außen geplant. Auch da werden sich wahrscheinlich nicht alle in allen Fragen einig sein. Dafür vielleicht aber darin, dass sie alle ziemlich ähnliche Gefühle zum Nahostkonflikt haben – egal auf welcher Seite sie stehen.

Illustration: Raúl Soria

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