Mo hat sich getraut. Er hat die letzte Prüfung seines BWL-Studiums geschmissen. Danach wollten seine Eltern mit ihm und seiner Schwester eigentlich zurück in den Irak. Doch Mo (Mohamed Kanj Khamis) will Filme machen und vor allem in Deutschland bleiben. „Manchmal muss man seine Eltern eben enttäuschen“, sagt ihm seine Freundin Jamila (Paula Julie Pitsch). Das ist aber nicht so einfach. Vor allem, wenn die Eltern einst wegen eines Giftgasangriffs aus Kurdistan fliehen mussten. Wie steht man zu seinen Träumen, wenn die eigenen Probleme unbedeutend erscheinen verglichen mit denen, die die Eltern hatten?
Die Serie hat aus der Fülle an postmigrantischen Geschichten eine gute Auswahl getroffen
Mo, Jamila und ihre Freund:innen Ani, Coumba, Zehra und Nikki sind Anfang 20, leben in Berlin und sind die Hauptfiguren der Serie „Made in Germany“. Wie der Titel schon andeutet, sind sie jeweils die Ersten aus ihren Familien, die in Deutschland geboren wurden. Jede der sechs Folgen widmet sich einer von ihnen und erzählt von einem zentralen Konflikt auf dem Weg zum Erwachsenwerden und zur eigenen Identität.
Dabei hat die Serie aus der Fülle an noch wenig erzählten postmigrantischen Geschichten – also Geschichten über die Zeit nach einer Migrationsbewegung – eine gute Auswahl getroffen. Den Auftakt macht Ani (Maria Mai Rohmann), die aufgrund der Wohnungsnot in der Hauptstadt zu ihrem Vater in eine Plattenbausiedlung in einem Außenbezirk zieht. Anis Vater kam einst aus Vietnam in die DDR. Beide verstehen einander zunächst nicht, bis es zu einem rassistischen Vorfall kommt. Coumba (Vanessa Yeboah) muss sich wiederum entscheiden, ob sie als Schwarze Frau mit Hidschab Teil einer Diversity-Kampagne und dadurch ein Vorbild für Frauen wie sie sein will. Ihr Bruder befürchtet hingegen, dass das Unternehmen mit Coumba sein Image aufbessern will und vorgibt, sich für Vielfalt zu engagieren, ohne dies tatsächlich zu tun. Coumbas beste Freundin Zehra (Beritan Balci) möchte sich indessen endlich gegenüber ihrem alevitischen Vater als lesbisch outen. Und Nikki (Daniil Kremkin) lernt die US-amerikanische Jüdin Maya kennen, die beim Sex verblüfft feststellt, dass er nicht beschnitten ist. Sein Verhältnis mit Maya lässt den Sohn belarussischer Einwanderer hinterfragen, inwiefern er jüdisch sein kann, ohne religiös zu sein.
Die sechs Charaktere sind allesamt vielschichtig angelegt. Zwar spielen die eigenen Eltern und deren Herkunft oft eine wesentliche Rolle, dennoch geht es auch viel um Freundschaft und Dating, wie etwa bei Jamila, die von Ben im Museum angequatscht wird. Als sie versteht, dass seine Ex-Freundin auch Schwarz ist, bekommt sie den Verdacht, Ben interessiere sich nur deshalb für sie. Ihre weiße Mutter wiederum erklärt ihr, dass sie Jamilas jamaikanischen Vater auch wegen seiner Hautfarbe toll fand. So wird deutlich, wie allgegenwärtig Diskriminierung und Vorurteile im Leben der Hauptfiguren sind. Was auffällt, ist, dass eine Nebenfigur ohne Rassismuserfahrung, die Sensibilität für die Lebensrealität der Hauptfiguren entwickelt, in der Serie fehlt. Dabei hätte das interessant sein können – nicht, um Diskriminierung auszublenden, sondern um auch hier Vorbilder zu zeigen.
Die Serie zeigt ganz nebenbei die Vielfalt der gesprochenen Sprachen in Deutschland
Bei der Konzeption stehen Formate wie „Made in Germany“ vor einer besonderen Herausforderung: Denn wenn die eigene Repräsentation häufig klischeehaft und lückenhaft ist, kommt es umso mehr darauf an, möglichst viele Aspekte abzudecken, um die komplexe Realität abzubilden. Doch wer viel erzählen will, braucht auch Zeit, und von dieser hat die Serie mit durchschnittlich 35 Minuten pro Folge zu wenig bekommen. Gängige Episodenlängen von 50 oder 60 Minuten wären wichtig gewesen, um mehr Raum für Gefühle und Dialoge zu haben. So wirken die Folgen stellenweise überladen mit Themen, Figuren und Schauplätzen. Das ist umso bedauerlicher, als „Made in Germany“ mit einem starken Bewusstsein für die Bedeutung von Erfahrungen und Perspektiven angelegt wurde. Das gelingt, indem das Autor:innen-Team, die Regie und die Darsteller:innen aus den Communitys kommen, über die erzählt wird. Zwei der sechs Hauptdarsteller:innen arbeiteten vor der Serie nicht als professionelle Schauspieler:innen, sondern wurden in „Community-Castings“ ausgewählt.
Auch beim Szenenbild zeigt sich, mit welcher kulturellen Sensibilität gearbeitet wurde. Besonders bemerkenswert sind die detailreich eingerichteten elterlichen Wohnungen. Sie wirken nicht wie Filmsets, sondern wie lebendige Orte. Außerdem bringt die Serie ganz nebenbei auch die Vielfalt der gesprochenen Sprachen in Deutschland zum Ausdruck. In den Familien wird überwiegend die jeweilige Muttersprache gesprochen, wobei die Hauptfiguren oft auch auf Deutsch antworten. Eine filmisch wichtige Entscheidung, den Menschen ihre Sprache und damit ihre Stimme zu lassen.
Kurzum: „Made in Germany“ ist eine vielseitige Sammlung von Geschichten aus Deutschland, die hoffentlich in einer zweiten Staffel fortgesetzt wird. Dann aber bitte mit mehr Sendezeit.
„Made in Germany“ läuft ab dem 4. Oktober in der ARD-Mediathek und am 11. Oktober ab 22.30 Uhr auf ONE.
Regie: Anta Helena Recke, Đức Ngô Ngọc, Ozan Mermer, Raquel Stern; Drehbuch: Anta Helena Recke, Bahar Bektas, Đức Ngô Ngọc, Duc-Thi Bui, Naomi Bechert, Ozan Mermer, Raquel Stern, Sharon Ryba-Kahn
Titelbild: ARD Degeto/Studio Zentral/Iga Drobisz