Yulian Sheremeta reicht es. An einem Mittwochmittag im Februar 2024 sagt er: „In meinen Brei will ich mir nicht spucken lassen.“ Ein ukrainisches Sprichwort, das zu Deutsch in etwa bedeutet: Ich lass mir nicht die Butter vom Brot nehmen. Die deutsche Übersetzung wolle er sich merken. Sheremeta fühlt sich betrogen, er warte noch immer auf einen Teil seines Lohns von seinem ersten Job in Deutschland bei einem Handwerksbetrieb. Bald seien es vier Monate, sagt er.
Sheremeta, 43 Jahre, trägt die Haare kurz, das Poloshirt im Hosenbund. Vor zwei Jahren floh er zusammen mit seiner Frau und den fünf Kindern aus der Stadt Tscherkassy in der Mitte des Landes nach Nordrhein-Westfalen. Die Kinder besuchen die Kita und die Schule, die Eltern den Integrationskurs. Der sieht für ukrainische Geflohene Sprachkurse vor: Die B1-Prüfung Deutsch des Paares steht kurz bevor. Sie fühlen sich wohl hier: Die katholische Kirche hat der Großfamilie Obdach in einer Wohnung gegeben.
In Deutschland sind mittlerweile rund 1,18 Millionen Ukrainer*innen angekommen. Ihre Aufnahme sollte, anders als bei vielen anderen Geflüchteten, zügig und unbürokratisch nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes ablaufen: Die meisten müssen kein normales Asylverfahren durchlaufen, sondern bekommen einen Aufenthaltstitel, Sozialhilfe, die Möglichkeit, den Wohnsitz frei zu wählen – und auch zu arbeiten. Da sie, im Gegensatz zu vielen anderen Geflüchteten, sofort einen Aufenthaltstitel bekommen, dürfen sie sich legal eine Arbeit suchen.
Hochqualifiziert, aber ohne Anerkennung
Die allermeisten Ukrainer*innen möchten laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung gerne arbeiten, nur bis Abschlüsse anerkannt werden, dauert es. Viele sind hochqualifiziert – so wie Yulian Sheremeta: In der Ukraine hat er einen Abschluss in Theologie und Philosophie gemacht. Um möglichst schnell ins Berufsleben starten zu können, arbeitete er hier etwas ganz anderes, als Bodenleger.
Sheremeta sagt, er wolle arbeiten, er lerne schnell. Er habe auch schon schmerzhaft gelernt, wie das in Deutschland mit Jobs laufe: Wenn man die Sprache noch nicht kann, hat man es sehr schwer bei der Arbeit. Er gestikuliert auf dem Sofa, als wolle er sich endlich bemerkbar machen. Auf dem Wohnzimmertisch vor ihm stapeln sich viele Dokumente, die auch dem fluter vorliegen. Ein Arbeitsvertrag, ausgedruckte E-Mail-Verläufe, Lohnsteuerbescheide. Er will zeigen, dass es Ungereimtheiten gab, dass vieles nicht fair abgelaufen sei.
In Mainz, mehrere Hundert Kilometer von Yulian Sheremetas Wohnung entfernt, beugt sich Sergey Sabelnikov in seinem Büro über Kopien von Sheremetas Dokumenten. Er arbeitet in der Beratungsstelle des IQ Service Faire Integration und klärt dort Migrant*innen über ihre Rechte auf – auch auf Russisch. Sheremeta hat ihn um Hilfe gebeten.
Der Stundenzettel zeigt, dass Sheremeta ein Wochenende durcharbeitete, auf dem Lohnzettel ist nicht ersichtlich, ob er dafür extra Geld bekommen hat. Pausenzeiten sind auf seiner Stempelkarte nicht eingetragen. Die Lohnauszahlungen variieren. So sei es schwierig einzuordnen, ob die Arbeitszeiten korrekt vergütet wurden, sagt Sabelnikov.
Pro Betrieb gibt es nur alle 25 Jahre eine Kontrolle
Die Ungereimtheiten fingen früh an, im Herbst 2023: Sheremeta fand den Job über ein Onlineportal, erzählt er. Für die ersten zwei Tage im Betrieb stellt der Chef ihm eine Praktikumsbestätigung aus. Sheremeta sagt, dass die ersten Arbeitstage als Praktikum gelten, sei so im Bewerbungsgespräch nicht abgesprochen gewesen. Der Ukrainer wollte trotzdem bleiben und bekam dann einen richtigen Arbeitsvertrag: 3.000 Euro brutto, von 7 bis 16 Uhr an den Wochentagen, manchmal auch am Wochenende, flexible Einsatzzeiten. An Tagen ohne viele Aufträge wurde das Team früher heimgeschickt. Eine Stechuhr gab es zwar, Pausenzeiten wurden aber nicht erfasst. Oft wurde durchgearbeitet.
Arbeitgeber müssen nach deutschem Recht dafür sorgen, dass die Pausen- und Ruhezeiten eingehalten werden. Das gilt auch, wenn die Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern oder Nicht-EU-Mitgliedstaaten kommen. Eigentlich kontrolliert der Zoll auch, ob Arbeitgeber das tun, sagt Sebastian Klähn, Rechtsschutzsekretär bei der DGB Rechtsschutz. Doch den Zollstellen fehle Personal und die nötige digitale Infrastruktur, außerdem arbeiteten die Fachstellen nicht eng genug zusammen, sagt Klähn. Im Durchschnitt finde nur alle 25 Jahre eine Kontrolle in einem Betrieb statt.
„Gerade bei den Arbeitszeiten lässt sich besonders leicht tricksen, um Löhne zu drücken“, sagt Sebastian Klähn. In der Hotellerie hieße es etwa, gezahlt würde nach einer vorgegebenen Anzahl gereinigter Zimmer statt nach der dafür tatsächlich angefallenen Arbeitszeit. Unbezahlte Überstunden würden so normalisiert, und Arbeitgeber könnten so riesige Gewinne erzielen. Wer so in großem Stil Menschen beschäftigt, kann ordentlich abkassieren. Eine Grauzone, die nicht strafbar ist, sagt Klähn. Es sind Zwischenfälle, die man als Lappalien abtun könnte: ausbleibende Pausen, kurzfristige Arbeitseinsätze, Missverständnisse, die sich leicht auf die Sprachhürde schieben lassen.
An einem Abend kurz vor Weihnachten 2023 platzt Sheremeta der Kragen, und er schreibt dem Chef mit Google Translator eine Mail: Arbeit, steht darin, sei für ihn nicht nur Geldverdienen, sondern auch das Gefühl, für die Gesellschaft nützlich zu sein. Er bitte darum, dass der Chef sich strikt an den Vertrag halte.
Der Tag danach ist Sheremetas letzter als Bodenverleger. Nach einer Diskussion mit dem Chef kündigt Sheremeta. Auf die Fragen zu den Vorwürfen und der Zusammenarbeit mit Sheremeta schreibt der Chef, er wolle sich dazu nicht konkret äußern.
Die Ausbeutung hat System
Sergey Sabelnikov ist nicht überrascht. „Ein typischer Fall“, sagt er. Bei ihm sammeln sich seit zwei Jahren ähnliche Fälle von Ukrainer*innen. Im vergangenen Jahr kamen 220 Ukrainer*innen zu ihm, um Rat zu suchen. Bundesweit schildern Mitarbeitende der Beratungsstellen von Faire Integration und Arbeit und Leben e. V., einem Verein zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, sowie ukrainische Beschäftigte im Rahmen dieser Recherche ähnliche systematische Ausbeutung: Arbeitgeber machten falsche Versprechungen, nutzten das fehlende Wissen der Migrant*innen, ihre dürftigen Deutschkenntnisse und ihre Abhängigkeitssituation aus.
Dagegen arbeiten Sabelnikov und andere Berater*innen in mehreren Sprachen an. Die Angst vor der Macht der Arbeitgeber sei groß. Die meisten Ukrainer*innen wollten darum nicht öffentlich sprechen. Gerade im Niedriglohnsektor sei die Gefahr groß, weil dort viele Arbeit suchten. Arbeitsminister Hubertus Heil warnte schon im März 2022, dass Ukrainer*innen nicht „Opfer von Abzocke oder Ausbeutung“ werden dürfen.
Yulian Sheremeta versucht, sich selbst zu helfen. Und überlegt, vor einem Arbeitsgericht zu klagen. Auch wenn es ihm vor allem um Gerechtigkeit geht: Er braucht den Lohn, der ihm fehlt, um sein Leben in Deutschland zu bestreiten.
Diese Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium der Otto Brenner Stiftung und durch die International Women’s Media Foundation.
Illustration: Raúl Soria