Zu Dutzenden stehen sie zusammen, Jungs und Männer wie kleine schwarze Löcher: schwarze Hoodies, schwarze Fischerhüte, Oakley-Sonnenbrillen und „Haifisch“-Nikes, Modell Air Max TN. Einige sitzen auf Motorrollern, andere sind auf die Bäume geklettert, die den Place Jean Jaurès umgeben.
Es herrscht eine Stimmung wie im Stadion. Nur soll hier kein Fußballspiel gewonnen, sondern ein Musikvideo gedreht werden.
„C’est la petite qui gère le Bluetooth ...“, legt TK los, die schwarzen Locken wippen über seiner Anonymous-Maske. „Bluetooth“ ist eine Hommage an Marseille, seine Stadt. Er und sein Kollege Missan springen vor der Kamera auf und ab. Beide hoffen darauf, die Nächsten zu sein, die vom „Planet Mars“ durchstarten: Rap ist übergroß in Marseille, seit Jahren erobern Rapperinnen und Rapper von hier aus die Streamingdienste.
Und andere Länder: Deutschsprachiger Rap ist ohne die Einflüsse aus dem Nachbarland kaum denkbar. Die Pioniere aus Südwestdeutschland, Advanced Chemistry, Freundeskreis oder Massive Töne, waren wohl schon wegen der räumlichen Nähe französisch inspiriert. Später schauten Künstler wie Fler oder Bushido genau auf den harten Sound und die düstere Ästhetik der Gangsta-Rapper nebenan.
Heute sind Frankreich-Referenzen sowieso selbstverständlich. Wer kann, rappt ganze Parts auf Französisch oder streut zumindest französische Wendungen ein wie der Newcomer Haaland936 oder Pashanim. Der Berliner rappt stilsicher über die Basare von Marseille, Trikots des dort geborenen Fußballers Zinédine Zidane und seine Nike TNs. Die kamen wie die langen Haare und die billige Funktionskleidung von Decathlon aus Marseiller Gefängnissen und Hochhaussiedlungen auf die Straßen, fanden von dort ihren Weg in die Pariser Banlieues und nach Deutschland.
Dabei hat sich Marseille den Rap einst selbst abgeschaut. In den 1980er-Jahren brachten US-Soldaten auf der Durchreise die noch junge Musik auf Kassetten in die Stadt und ihre Clubs. Ihr Style – Baggys, Lederjacke, Goldkette – infizierte auch ein paar Jungs, die in einem Burgerladen am alten Hafen abhingen. Sie begannen selbst zu rappen, die Crews nannten sich IAM und Fonky Family.
Sie stehen für einen Rap de Marseille, der ohne den Einfluss der vielen Kulturen, Ethnien und Sprachen in der Stadt nie entstanden wäre. Ein Großteil der knapp 900.000 Marseillais kommt aus Familien mit Einwanderungsgeschichte. Italien, Portugal und Armenien, wegen der französischen Kolonialgeschichte vor allem auch Algerien, Senegal, Marokko, die Komoren oder Tunesien: Für viele Menschen endete die Route über das Mittelmeer einst in der Hafenstadt Marseille.
Im Gegensatz zu anderen Metropolen wurden die Zugewanderten nicht in die Vororte verdrängt, sie sind auch im Stadtzentrum geblieben. Die Identifikation mit der Stadt ist bis heute stark: Hier verstehen sie sich nicht als Algerier oder Armenier, als Bewohnerin von Noailles oder La Savine, hier sind alle Marseillais.
Nach der ersten Rap-Welle um IAM und Fonky Family schwappte der Rap aus der Innenstadt auch an die Ränder, in die Quartiers Nord, wo ein Hochhaus dem nächsten die Sonne nimmt. Dieser Umzug ist leicht zu datieren, leider: Februar 1995, drei Mitglieder des Front National (heute Rassemblement National) kleben Wahlplakate. Einer der Männer erschießt den vorbeilaufenden Ibrahim Ali. Der 17-Jährige ist Amateurrapper, er kommt gerade von einer Probe. Zu Ibrahims Ehren gründen seine Freunde in La Savine, am nördlichen Stadtrand, die Sound Musical School: ein Studio für aufstrebende Rapper.
Celo & Abdi haben hier Slang abgeguckt
„In Frankreich unterscheiden wir zwischen französischem Rap und Marseiller Rap“, sagt TK, der wie Missan algerische Wurzeln hat. „Die Stadt ist melancholisch, und sie kann richtig hart sein, aber wir verarbeiten das fast spielerisch.“ Schon der Rap von IAM und Fonky Family groovte mehr als seine Vorbilder aus den USA: Sie liehen sich Elemente aus Blues, Flamenco und Reggae, vom karibischen Zouk und der algerischen Popmusik Raï. Oder wie Missan sagt: „Der Rap hier klingt nach Mittelmeer.“ Anders als das Versgeballer aus Paris oder Deutschrap, der erst in den 2010er-Jahren entdeckte, dass er melodiös sein darf, ohne die Wurzeln des Rap zu verraten.
Zudem hat die Sprache einen eigenen Slang. Man hört tief arabisch durchsetztes Französisch, die Jugendsprache Verlan und die jahrhundertealte Geheimsprache Argot. Rapper wie Booba setzen den Slang gezielt ein, weil er wenig auf Rechtschreibung gibt und die Silben innerhalb eines Wortes gern mal tauscht. Frankfurter Straßenrapper wie Haftbefehl oder Celo & Abdi haben sich diese eigenwillige Grammatik geliehen.
Der Sound hier sei sehr schnell und tanzbar, sagt Tarik Chakor, Mitbegründer einer Promo-Agentur, die einige lokale Rapperinnen und Rapper vertritt. „Wir nennen das den JUL Type Beat.“
JUL, natürlich. Status: Selbst wenn ein Marseiller glaubt, nie von JUL gehört zu haben, er hat schon von JUL gehört. Aus Shishabars, von Balkonen, durch geöffnete Autofenster, man hört JUL unweigerlich in der ganzen Stadt. Er ist der größte Plattenverkäufer des französischen Rap und die Sonne, um die der Planet Mars kreist. Sein neuester Streich: die Bande Organisée aus mehr als 150 Marseiller Rapperinnen und Rappern. Dabei sind Größen wie Soprano, Le Rat Luciano von der Fonky Family oder IAM-Legende Akhenaton. Aber auch Talente wie Missan und TK.
Im Musikvideo einer Single der Bande Organisée rappt TK auf einem Kamel vor der Notre Dame de la Garde. Die Kathedrale von Marseille spielt eine zentrale Rolle bei JUL, genauso wie der Fußballverein Olympique de Marseille, kurz OM. Eine Kombination, die zeigt, wie Marseiller Rap funktioniert: Historisches Wahrzeichen trifft modernen Hochglanzfußball, Alt trifft Neu, Tradition, Architektur, Sport, Musik. „In Marseille brauchst du kein Storytelling. Marseille ist die Story“, sagt Missan.
Auch beim Videodreh sind Ultras von OM erschienen. Mit Bannern und Feuerwerk begleiten sie TK und Missan auf den Place Jean Jaurès. Fußball und Rap sind eine Einheit in Marseille. Der Song „Bad Boys de Marseille“ von Fonky Family feat. Akhenaton ist die inoffizielle Hymne von OM, JUL einer der Trikotsponsoren. 2020 gründete OM sogar ein eigenes Rap-Label. OM Records ist das erste Label eines Fußballvereins überhaupt – und ein Flop, sagt Tarik Chakor. „Das Management kam aus Paris. Die haben nicht verstanden, wie der Rap in Marseille funktioniert.“
Kreativ sei die Stadt bestens entwickelt, sagt Chakor, Künstlerinnen und Künstler kämen aus dem ganzen Land, um in den Studios in Marseille aufzunehmen. „Aber was das Musikgeschäft angeht, sind wir am Anfang.“ Wer die dicken Vorschüsse und das größtmögliche Publikum wolle, müsse den Weg über Paris machen, wo die großen Medien und Labels sitzen.
„In Paris sind die Stars, in Marseille sind die Künstler“, sagt TK. „Hier macht jeder sein Ding: vom Rappen bis zum Videodreh. Und bis das klappt, arbeitet der eine nebenher im Supermarkt, der andere verkauft Koks oder klaut.“
Ein Major-Deal sei für viele die einzige Möglichkeit, der Armut in den Quartiers zu entkommen, sagt Chakor. Und sauber zu bleiben: „Der Drogenhandel, die Mafia und der Knast gehören zu Marseille wie die Sonne und das Meer.“ Und immer mehr: der Rap.
Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 „Rap” erschienen.
Das ganze Heft findet ihr hier.