Thema – Wahrheit

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Ihr Glaube

Für manche Religionsgemeinschaften gibt es nur die eine Wahrheit. So ist es auch Kristina ergangen – bis sie ihren eigenen Weg zu Gott fand

Fotos: Michael Alberry

Auf Fotos lächelt eine junge Frau mit langen dunkelbraunen Haaren und rotbraunem Lippenstift, sie trägt ein Nasenpiercing und schwarze Tattoos an den Armen. Noch vor zehn Jahren hätte Kristina, heute 27, nicht so ausgesehen. Ihr Kleidungsstil damals: langer Rock, hochgesteckte Haare, kein Make-up oder Schmuck.

„Ein Weib soll keine Männertracht tragen“ – so steht es in der Bibel. Von Kindesbeinen an lernt Kristina, dass man nur dann richtig und wahr lebt, wenn man sich strikt und wortwörtlich an das „Wort Gottes“ hält. Für die baptistische Gemeinde, in der sie aufwächst, bedeutet das: Frauen dürfen keine Hosen tragen. Popmusik ist unchristlich, Fernsehen und Tanzen sind verboten, ebenso wie Sex vor der Ehe. Homosexualität wird abgelehnt. Für Kristina ist das damals völlig normal. Nur durch diese Art zu leben komme sie in den Himmel, wird ihr in der Gemeinde beigebracht, andere Religionen und Lebensweisen gelten als falsch, als unwahr. „Entweder brannte man für die Religion oder war kalt – es gab nur richtig oder falsch“, sagt Kristina. Jahrelang brannte auch sie für diesen Glauben.

Die meisten baptistischen Gemeinden in Deutschland – rund 670 – gehören zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) und erfreuten sich, anders als die katholische Kirche, jahrelang relativ stabiler Mitgliederzahlen. Erst seit 2018 vermeldet der BEFG einen leichten Rückgang – auf rund 80.200 Mitglieder Ende 2019. Die Taufe findet bei den Baptisten erst bei Jugendlichen und Erwachsenen statt, da sich die Menschen bewusst für ihren Glauben entscheiden sollen, doch auch Kinder sind bereits in die Gemeinden integriert. Von manchen Seiten wird freikirchlichen Gemeinden vorgeworfen, Glaubensgrundsätze ähnlich wie bei einer Sekte auszuleben. Formell als Sekte eingestuft sind sie aber nicht. Auch Kristina sieht das noch immer anders, immerhin stehe es ja jedem frei, auszutreten. Und nach dem Austritt sei man weiterhin im Gottesdienst willkommen.

Die strikten Regeln der Gemeinschaft zwingen sie in ein Doppelleben

Die Absolutheit, die eine Glaubensgemeinschaft vorgeben kann, lässt in Wahrheit jedoch nicht immer allzu viele Freiheiten zu. Kristina muss, obwohl offiziell noch nicht Teil der Gemeinde, schon im Kindesalter an Bibelstunden teilnehmen, mehrfach am Tag betet sie. Sonntags geht sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern gleich zweimal in die Kirche. Der Glaube beherrscht ihren Alltag, und doch irritieren sie die Regeln und Pflichten. Als ihr die Mutter in der fünften Klasse verbietet, mit auf Klassenfahrt zu fahren, und sie dazu drängt, in der Schule zu sagen, dass sie nicht mitmöchte, bekommt Kristinas Glaube erste Risse.

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Foto: Michael Alberry

Momente der Entrücktheit: Viele evangelikale Gemeinden feiern ihre Gottesdienste mit Musik und Tanz

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Foto: Michael Alberry

In seiner Fotoreihe „Communions” thematisiert Michael Alberry die Parallele zwischen ekstatischem Raven und dem Gebet

Ausgerechnet in der Schule soll Kristina lügen, dabei hat sie es dort sowieso schon nicht leicht. Als die Mädchen anfangen, sich zu schminken und auf Partys zu gehen, wird sie gemobbt, weil sie nicht mitmacht. Also beginnt sie eine Art Doppelleben: Morgens geht sie in keuscher Kleidung aus dem Haus, versteckt sich hinter dem nächsten Busch und schlüpft in eine Hose. Auf der Schultoilette trägt sie Mascara auf. Nach der Schule verwandelt sie sich zurück in eine gläubige Baptistin. Manchmal trifft sie sich auch heimlich mit Freunden außerhalb der Gemeinde. Wenn sie zu Hause Lügen darüber erzählt, wo sie war und was sie mit wem gemacht hat, quält sie das schlechte Gewissen. Ihr Leben beginnt sich falsch anzufühlen.

Trotz der Zweifel lässt sich Kristina mit 15 taufen. „Irgendwann war ich überzeugt davon, dass man nur baptistisch richtig und wahr leben kann.“ Da ihr damaliger Freund bereits getauft ist, fühlt sie sich verpflichtet, es ihm gleichzutun. Sie lässt ihr anderes Leben hinter sich, die Schulfreunde, die heimlichen Treffen und Partys. Ein paar Jahre später, Kristina ist gerade 18, heiratet sie. Als sie wenig später eine Fehlgeburt erleidet, ist das ein Schock für sie, zumal sie in der Gemeinde keinen Trost findet. Um den Verlust zu verarbeiten, geht sie feiern, raucht und trinkt. Ihre Beziehung zerbricht. Doch Scheidung ist für die Gemeinde keine Option. Kristina wird unter Druck gesetzt: Sie solle zu einer Eheberatung gehen, aufhören, zu rauchen und zu trinken. „Es wurde von allen Seiten gesagt, was ich jetzt alles tun müsste – aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es mir dann besser gegangen wäre.“ Stattdessen fühlt sie sich in die Enge getrieben. Mitten in der Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten macht sie einen vollständigen Cut: Sie lässt sich scheiden, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, schwört Gott ab.

Kristina merkt, dass Glauben Spaß machen kann

Mit Anfang 20 erlebt sie ihre Jugend neu, geht in Clubs, trifft sich mit Männern, reist das erste Mal allein ins Ausland. Mit ihrem einstigen Glauben will sie nichts mehr zu tun haben. Ihre Familie versucht, Kristina umzustimmen, akzeptiert irgendwann aber ihre Entscheidung. Heute sei die Beziehung besser als vorher. Möglicherweise deswegen, weil Kristina vor einigen Jahren wieder zu Gott zurückgefunden hat. Als Au-pair in Brasilien trifft sie Christinnen und Christen, die ihr zeigen, wie sie ihren Glauben ohne Zwänge leben kann. In Gottesdiensten wird getanzt, mal eine Zigarette zu rauchen ist keine Kata­strophe – Kristina merkt, dass Glauben Spaß machen kann, und lernt: „Ich kann eine Beziehung zu Gott haben, ohne mich an Richtlinien zu halten.“

Heute sieht sich Kristina als pluralistische Christin, sie glaubt an Gott, Jesus, ein Leben nach dem Tod. Einer Kirche fühlt sie sich nicht zugehörig. „Wenn ich das Bedürfnis habe, mich jemandem mitzuteilen, bete ich oder lese in der Bibel, aber ich mache das nicht nach Zwang.“ Wurde sie früher dazu gedrängt, Gleichaltrige zu missionieren, gilt heute für sie: Jeder und jede soll glauben, wie er oder sie das möchte. Für viele eine Selbstverständlichkeit. Kristina musste das erst lernen.

Fotos: Michael Alberry

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.