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„Es ist ein Privileg, nicht hingucken zu müssen“

In ihrer Dokumentation „Displaced“ arbeitet die jüdische Regisseurin Sharon Ryba-Kahn ihre Familiengeschichte auf – und ihre Wut darüber, wie nichtjüdische Deutsche mit der eigenen Vergangenheit umgehen

Sharon und Ihr Vater am Grab Ihres Urgrossvaters

Die Regisseurin Sharon Ryba-Kahn wurde in München geboren und hat in Israel, Frankreich und den USA gelebt. In Deutschland, wo sie seit 14 Jahren wieder wohnt, fühlt sie sich vor allem als Jüdin, sagt sie. Ryba-Kahns Großeltern väterlicherseits waren Holocaust-Überlebende. Über ihre Erfahrungen wurde in der Familie jedoch nie gesprochen. In ihrem zweiten Dokumentarfilm „Displaced“ stellt sie sich ihrer Familiengeschichte und ihrem schwierigen Verhältnis zu Deutschland. Dazu nimmt sie nach Jahren der Funkstille auch den Kontakt zu ihrem Vater wieder auf und besucht ihn in Israel, wo er heute lebt.

fluter.de: Ihr neuer Dokumentarfilm trägt den Titel „Displaced“. Als „Displaced Persons“ wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Menschen bezeichnet, die etwa aus ihrer Heimat deportiert oder vertrieben worden waren. Meinen Sie mit dem Titel sich selbst?

Sharon Ryba-Kahn: Ich glaube, dass ein guter Titel mehrere Geschichten beinhaltet. Und der Film erzählt ja nicht nur meine Geschichte. Für mich ist „displaced“ ein Gefühl, aber es ist auch eine Realität. Was das Gefühl betrifft, meine ich mich selbst auch, aber natürlich bin ich keine „Displaced Person“ – anders als die erste Generation (Anm. d. Red.: Mit der ersten Generation sind die Shoah-Überlebenden gemeint, die dritte Generation sind ihre Enkel). „Heimat“ ist kein Wort, mit dem ich mich identifizieren kann. Das bedeutet ja unter anderem, dass die Familie an einem Ort geboren ist und dort immer noch lebt. Ein heiler Ort, das entspricht nicht meiner Realität.

Ihr Vater, der Sohn zweier Holocaust-Überlebender, hat mit Ihnen nie über die Shoah gesprochen – auch nicht nach dem Tod seines Vaters. Woran liegt das?

Wenn man meinen Vater im Film sieht, ist das oftmals überraschend. Er wirkt häufig emotional abgeschnitten. Als Zuschauer wünscht man sich wahrscheinlich, dass er mich einfach mal in den Arm nimmt. Ich glaube, dass er diesen Luxus selbst nie hatte. Seine nüchterne, rationale Art und Weise ist ein Überlebensmechanismus. Ob das der richtige Weg ist, muss das Publikum entscheiden.

Sie selbst tragen Ihre Gefühle mehr nach außen. In der „Jüdischen Allgemeinen“ haben Sie letztes Jahr gesagt, dass die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft in Deutschland Sie lange wütend gemacht hat. Diese Wut spürt man auch im Film. Woher kommt dieses Gefühl?

Das ist das Gefühl der Ungerechtigkeit, der eigenen geschichtlichen Unsichtbarkeit und das Privileg der anderen, die Geschichte einfach vergessen zu können – diese Mischung erzeugt Wut. Wut ist oftmals auch mit Hilflosigkeit verbunden. Vielen Menschen macht sie Angst, deswegen wird „Displaced“ oft als unbequemer Film empfunden. Seitdem ich den Film gemacht habe, ist meine grundlegende Gefühlslage aber nicht mehr so wütend wie vorher.

Wieso?

Ganz einfach, weil ich mit „Displaced“ etwas laut gesagt habe, was ich lange nur gefühlt habe. Ich habe eine Sichtbarkeit für Gefühle geschaffen, die vorher nicht sichtbar waren. Das Großartige am Medium Film ist ja, dass es Menschen, Situationen und auch Gefühle ganz genau unter die Lupe nehmen kann. Und wenn Sie als Zuschauerin dasitzen und die Wut fühlen, dann habe ich meinen Job als Filmemacherin richtig gemacht.

DISPLACED Trailer German Deutsch (2021)

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In einer Szene sagt eine Freundin zu Ihnen, sie hätte Sie während Ihrer Schulzeit nie als Jüdin wahrgenommen. Das hat mich an den Spruch „I don’t see color“ erinnert, den viele von Rassismus Betroffene als eine Bagatellisierung ihrer Rassismuserfahrungen wahrnehmen. Ging es Ihnen im Gespräch mit Ihrer Freundin ähnlich?

Ja. In diesem Moment passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Zum einen weiß man, dass man nicht als das gesehen wird, was man ist. Besonders schmerzhaft ist das bei einer langjährigen Freundin. Gleichzeitig ist man es als jüdischer Mensch in Deutschland gewohnt, solche Sachen zu hören. Die Konsequenz ist, dass man einen inneren Monolog mit sich selbst führt. Darin sagt man sich, dass die Person es nicht böse gemeint hat. Ich würde behaupten, dass das Gegenüber die Tragweite seiner eigenen Worte oft nicht einmal erkennt. Das ist auch das Traurige daran. Es ist ein Privileg, nicht hingucken zu müssen.

Sie sprechen sich dafür aus, dass nichtjüdische Deutsche sich mehr mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, etwa in der Schule. Was läuft denn Ihrer Meinung nach gerade falsch?

In Deutschland wünscht man sich oft eine sehr aufgeräumte Attitüde. Man würde am liebsten auch mit Emotionen aufgeräumt umgehen, nichts fühlen, alles sortieren können, alles schön in Schächtelchen verpacken. Man schickt die Kinder einmal in die Mahn- und Gedenkstätten nach Auschwitz oder nach Sachsenhausen, und manchmal bringt man ihnen – wenn es noch welche gibt – einen Überlebenden vorbei, und voilà, das war’s dann.

Was ist das Problem an diesem Ansatz?

Natürlich kann eine Gedenkstätte wie Auschwitz, Ravensbrück oder Sachsenhausen oder auch ein Überlebender mit seinen Erzählungen etwas leisten, was Unterricht nicht leisten kann: die Präzisierung der Geschichte. Die ist wichtig, um das automatisierte, das gezielte Morden der Shoah zu verstehen. Aber wenn man die Konsequenz dessen, was die Shoah bedeutet, nicht innerlich zulassen kann, haben die Schülerinnen und Schüler nur einen noch eingeschränkteren Zugang zur Shoah. Allerdings müssten die Lehrer und Lehrerinnen dieses Gefühl für sich selbst zulassen, denn erst dann können sie es auch vermitteln. Das wiederum wird schwierig, wenn man sich nicht mit der Rolle der eigenen Familie während des Holocaust auseinandergesetzt hat.

Mit „Displaced“ wollten Sie Antworten auf viele Fragen suchen, etwa zu Ihrer eigenen Identität und Ihrem Verhältnis zu Deutschland. Haben Sie welche gefunden? Wenn ja, was hat das mit Ihnen gemacht?

Ich glaube, dass sich bei dem Akt, den Film zu machen, ein Knoten gelöst hat. Ich wollte wissen, wer mein Vater im Kontext dieser großen Geschichte ist, wie genau ihn die Shoah beeinflusst hat, und somit, wie sie auch mich beeinflusst hat. Und ich wollte auch wissen, was passiert, wenn ich mich der Geschichte im Kontext meines Lebens in Deutschland stelle. Eines der Ergebnisse dieses Filmes ist, dass er den massiven Unterschied zwischen dem jüdischen Diskurs und dem der Mehrheitsgesellschaft auf die Leinwand bringt. Plötzlich gibt es mehr als „nur“ mein Narrativ oder eine Reihe von Geschichten und Erfahrungen, es gibt nun ein bleibendes Dokument, einen Film, und das ist extrem berührend und befreiend.

„Displaced“ startet am 4. November in den deutschen Kinos.

Titelbild: Tondowski Films

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.