Franziska Schwingel war blauäugig, sagt sie heute. Die gelernte Krankenpflegerin ahnte damals nicht, was es heißt, ihren Job nach sieben Jahren an den Nagel zu hängen und ein Café im angesagtesten Viertel der Stadt zu übernehmen. Sie wusste nicht, wie viel Arbeit das bedeutet und wie viel Bürokratie es mit sich bringt. Vor allem aber hätte sie sich nicht ausgemalt, dass ihr Café manchen Menschen im Viertel ein derartiger Dorn im Auge sein würde.
Das Café Mainheim hat eine breite Glasfront. Dahinter sieht man in der Regel junge Menschen in einem hellen Raum auf schlichten Holzstühlen sitzen, oft vor ihren aufgeklappten Laptops. Eine sehr typische großstädtische Szene – abgerundet durch Vintage-Lampen und eine eher hochpreisige Frühstückskarte. Das vegane kostet 13,50 Euro, drei Rühreier 10,50 Euro. Im Winter vor vier Jahren sprühten Unbekannte erst „Yuppies Fuck Off“ an die Fenster, wenige Wochen später stand dort: „Scheiß Hipster“. Eigentlich wollte Franziska nur ein Café führen, stattdessen wurde sie zum Symbol der Gentrifizierung, die hier im Nürnberger Westen seit Jahren die Gemüter erhitzt.
Egal ob in Berlin-Neukölln, im Hamburger Schanzenviertel oder in Nürnberg-Gostenhof: Erst ziehen Studierende, Alternative und Künstlerinnen dorthin, wo die Mieten niedrig sind. Cafés, Kneipen und kleine Läden entstehen und damit eine kreative Atmosphäre, die das Viertel auch für Menschen attraktiv macht, die höhere Mieten zahlen können. Also werden die Cafés und Restaurants schicker, Investoren sanieren Häuser und bieten Wohnungen für Besserverdienende an. Schließlich können sich viele alteingesessene Bewohner und Bewohnerinnen ihr Viertel nicht mehr leisten. Und manche Ladenbesitzer werden plötzlich als Yuppies beschimpft.
„Wir haben uns nicht als Reichenverein wahrgenommen“, sagt Cafébesitzerin Franziska. „Wir haben nur Studenten beschäftigt oder Leute, die hier im Umkreis wohnen und ihre Familie davon ernähren. Wir haben immer fair bezahlt und regional eingekauft. Und es sind weiß Gott nicht nur Besserverdienende, die hier ein und aus gehen.“ Die Graffitis ließ sie auf den Scheiben und ergänzte das „Scheiß Hipster“ mit „Nice Hipster“.
Wie aus Gostenhof erst Gostanbul und dann GoHo wurde
Gostenhof hat einiges zu bieten, was junge studierende Menschen anzieht: innenstadtnahe Altbauten, hohe Kneipendichte, bunte Sticker an den Laternen. Im 19. Jahrhundert war Gostenhof für den Bahnhof, das Gaswerk und die Spielzeugfabriken bekannt – ein Arbeiterviertel, das im Gegensatz zur Nürnberger Altstadt vom Krieg weitgehend verschont blieb.
Während große Teile der Stadt neu aufgebaut wurden, zogen
die Menschen hier in die noch erhaltenen Häuser aus der Gründerzeit. Die Wohnungen waren heruntergekommen, es gab wenig Grün und kaum öffentliches Leben. Ab den 1960er-Jahren brachte man hier schließlich die angeworbenen „Gastarbeiter“ und ihre Familien unter. Aus Gostenhof wurde im Volksmund Gostanbul.
Ab 1980 startete die Stadt schließlich eine Stadtteilsanierung – mit Bürgerbeteiligung. Die „Erneuerung von unten“ sollte möglichst sozialverträglich stattfinden. Alle Wohnungen sollten Bäder und der Stadtteil mehr Grünanlagen bekommen. Die Sanierung des Viertels dauerte bis 1997. Plötzlich wurde es schick, nach Gostenhof zu ziehen. Davon kündete auch der neue Spitzname: Aus dem an Istanbul angelehnten Gostanbul wurde GoHo – wie SoHo, das New Yorker Stadtviertel, das lange für Kunst und Partys berühmt war, mittlerweile jedoch eher für teure Luxusapartments. Der Vergleich mit SoHo ist gar nicht so abwegig: Auch die Veränderung in Gostenhof lockte Investoren an, die hier neu bauten oder teuer sanieren ließen. Wer heute durch die Nürnberger Straßen zwischen Petra-Kelly-Platz und Jamnitzerplatz spaziert, merkt, dass der Konflikt unter anderem auf den mit Graffitis überzogenen Fassaden ausgetragen wird. „Yuppies Fuck Off“ oder „Hände weg von unseren Nachbarn“ steht da. Politische Meinungsbildung und das erstbeste Instrument, um der Aufwertung von Immobilien etwas Abwertendes entgegenzusetzen. Zuletzt traf es das neu eröffnete Restaurant Veles: „Verpisst euch nach Erlenstegen!“, hatte jemand an die Wand gesprüht, so heißt das Nürnberger Villenviertel.
Die Szene, die auch regelmäßig gegen den „Mietenwahnsinn“ auf die Straße geht, organisiert sich rund um den Stadtteilladen „Schwarze Katze“ am Jamnitzerplatz. (Gegenüber dem fluter möchten sich die Aktiven lieber nicht äußern.) Ausgerechnet in direkter Nachbarschaft zur Schwarzen Katze wurde 2013 ein kastenartiger Bunker zwischen die alten Gründerzeitfassaden gesetzt, damals der teuerste Neubau der ganzen Stadt. Die Projektentwickler bewarben ihre bis zu 750.000 Euro teuren Wohnungen auch damit, dass sie sich eben nicht in einem sterilen, sondern in einem multikulturellen, authentischen und organisch gewachsenen Stadtteil befänden.
Von Gentrifizierung will die Stadt Nürnberg nicht sprechen
Selbst die Graffitis scheinen den Charme des Viertels auszumachen, der Menschen aus ihren gutbürgerlichen Stadtteilen anlockt.
Aber ist es wirklich so, dass Arbeitslose, Geringverdienende und Alleinerziehende vor die Tore der Stadt verdrängt werden, wie die Aktivistinnen und Aktivisten befürchten? Die Stadt Nürnberg erklärt dazu, dass die Bau und Investitionstätigkeiten in Gostenhof fast vollständig zum Erliegen gekommen seien. Die Bevölkerungszahl sei momentan leicht rückläufig, die Mietpreise bewegten sich 2019/2020 mit 9,75 Euro (vgl. 2013/2014: 7,69 Euro) pro Quadratmeter auf einem Niveau, das leicht unter dem städtischen Durchschnitt liege – obwohl die Bodenpreise rund um den Jamnitzerplatz von 2014 bis 2020 um 135 Prozent gestiegen seien. Aber das ist im Rest der Stadt ähnlich. Von Gentrifizierung, so Nürnbergs Wirtschaftsreferent Michael Fraas, könne also keine Rede sein, allenfalls von politisch gewollter Aufwertung des Quartiers. So dramatisch die Initiativen die Situation beschreiben, so harmlos klingt das, wenn städtische Stellen darüber sprechen.
Vielleicht helfen die nackten Zahlen allein nicht weiter, wenn es vor allem um ein Gefühl geht, das langjährige Bewohnerinnen und Bewohner teilen. Nicola Nemeth ist Sozialpädagogin, seit 1993 wohnhaft in Gostenhof und vielfach engagiert für die Mieterinnen und Mieter. Einige gute Bekannte von ihr mussten das Viertel in den vergangenen Jahren wegen der gestiegenen Miete verlassen, sagt sie. Und: „Ich habe das Leben hier früher als familiärer, sozialer, gemeinschaftlicher empfunden. Es ziehen Leute in die Neubauten, die es hier schön finden, weil es Biergärten gibt. Aber wehe, um 22.05 Uhr ist es noch laut auf der Straße, dann wird die Polizei gerufen.“
Der Eindruck der Verdrängung hängt anscheinend nicht nur mit Neubauten und schicken Cafés, sondern auch mit der Polizeipräsenz und den vielen Beschwerden wegen Ruhestörung zusammen. Einige Alteingesessene glauben, dass die Stadt für die neu Zugezogenen in einem einst belebten Viertel für Ruhe sorgen wolle.
In den Neunzigern lebte Nicola Nemeth am Petra-Kelly-Platz, der damals Bauernplatz hieß. „Da gab es Bänke und Grün“, sagt sie, „und es war ein Treffpunkt für die Obdachlosen, die sich dort aufhalten konnten und uns manchmal bei schweren Einkäufen geholfen haben.“ Dann habe die Stadt saniert, und die Bänke seien weggekommen. Ein Treffpunkt sei der Platz geblieben, allerdings nicht mehr für die weniger Privilegierten. „So zerstört man den Sozialcharakter eines Viertels“, sagt Nemeth, „und die Stadt hat das meiner Meinung nach auch mit verstärkter Polizeipräsenz vorangetrieben nach der Devise: Die Straßen müssen sauber sein.“
Nur ein paar Meter weiter vom schick sanierten Platz leben die Menschen, um die sich Nemeth sorgt. Die Heilsarmee, eine evangelische Freikirche, unterhält in der Gostenhofer Hauptstraße sowie der Leonhardstraße zwischen türkischem Café, Spielothek und Biomarkt Nordbayerns größte Unterkunft für wohnungslose Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten. Rund 200 Männer leben in den Apartments, nicht selten mit Suchterkrankung oder Gefängniserfahrung. Die Heilsarmee bietet hier nicht nur ein Bett und ein Dach überm Kopf, sondern auch Beschäftigungsangebote, sozialpädagogische Betreuung und ein Freizeitzentrum. Motto: „Suppe, Seife, Seelenheil.“
Eine Wohnung zu finden dauert heute deutlich länger
Kilian Brandenburg arbeitet seit 22 Jahren hier. Seit März leitet er die Einrichtung und hat die Entwicklung des Viertels hautnah mitbekommen. Der Petra-Kelly-Platz habe früher einen etwas zweifelhaften Ruf gehabt, der auf das Sozialwerk abfärbte. Heute seien die Obdachlosen dort nicht mehr willkommen. Aber wo seien sie das schon in Deutschland, fragt er. „Das ist grundsätzlich so und nicht nur dort. Wohnungslosigkeit existiert, es ist aber politisch nicht so erwünscht, dass man das irgendwo sieht.“
Brandenburg kann nicht bestätigen, dass die Heilsarmee mehr Menschen aufnehmen müsse, weil sie von Investoren und gierigen Vermieterinnen vertrieben worden seien. Aber die Verweildauer derjenigen, die hier den Entschluss gefasst haben, wieder eine eigene Wohnung zu finden und neu anzufangen, sei länger geworden. „Wenn du deine Wohnung verloren hast, ist es im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden, wieder eine bezahlbare zu finden. Unsere Bewohner konkurrieren um den billigen Raum mit vielen anderen Leuten.“
Den findet man in Gostenhof kaum noch. Gerade entstehen in direkter Nachbarschaft der Obdachlosenunterkunft wieder einmal modernistisch schlichte Wohnungen im hochpreisigen Segment: „Die neue Spielzeugfabrik“ nennt sich dieses Projekt.
„Wer hier lebt, ist direkt am Puls der Zeit“, schreiben die Projektentwickler in ihr Exposé. Man darf sich wohl auf Farbbeutelflecken an der Fassade einstellen.