Türkei 🇹🇷
Bereits 1963, als es die EU noch nicht gab, sondern ihren Vorgänger, die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, verabredeten die Mitglieder mit der Türkei neben engen wirtschaftlichen Beziehungen auch eine Beitrittsperspektive. 1987 stellte Ankara offiziell den Antrag zur Aufnahme, 1996 startete die Zollunion zwischen der Türkei und der EU, und 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen eröffnet. Von insgesamt 35 Verhandlungskapiteln konnte bisher allerdings nur das Kapitel „Wissenschaft und Forschung“ vorläufig geschlossen werden. Das hat viele Gründe: Vonseiten einiger EU-Staaten wurde das Beitrittsbestreben des muslimisch geprägten Landes von Anfang an skeptisch beäugt: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel etwa sprach sich gegen eine Vollmitgliedschaft und für eine „privilegierte Partnerschaft“ aus, Österreich kündigte an, die Bevölkerung über einen Beitritt per Referendum entscheiden lassen zu wollen – ein implizites Aufnahmeveto. Diese Ablehnung frustrierte wiederum die türkische Politik und führte zu steigender EU-Skepsis innerhalb der türkischen Bevölkerung. Auf der anderen Seite gab es auch handfeste Probleme auf türkischer Seite, die die Verhandlungen erschwerten. Zum Beispiel die Beziehungen zwischen der Türkei und der Republik Zypern (seit 2004 EU-Mitglied), deren Souveränität die Türkei in Teilen nicht anerkennt und mit der sie keine Zollunion eingehen will. Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, insbesondere die politischen Repressionen nach dem gescheiterten Putschversuch 2016, wurde vonseiten der EU mit Sorge beobachtet: Das EU-Parlament empfahl 2019, die Verhandlungen auf Eis zu legen. Die Kommission würdigt die Türkei in ihrem letzten Fortschrittsbericht als wichtigen Partner, sagt aber auch, dass sich das Land immer weiter von der EU entferne. In Umfragen für das Eurobarometer gaben im Sommer 2022 21 Prozent der Befragten in der Türkei an, sich der EU sehr oder ziemlich verbunden zu fühlen, 76 Prozent fühlten sich nicht sehr oder überhaupt nicht verbunden.
Im fluter-Podcast erzählt Nini Tsiklauri, wie sie der Georgienkrieg zur Europa-Aktivistin machte. Und wir fragen: Hat die EU ein Image-Problem?
Montenegro 🇲🇪
2006 wurde das Land von der EU anerkannt, 2008 reichte es seinen Beitrittsantrag ein, die Verhandlungen begannen 2012. Mittlerweile wurden alle 35 Verhandlungskapitel eröffnet und drei vorläufig abgeschlossen. Die EU-Kommission bescheinigt Montenegro eine grundsätzlich gute Entwicklung, mahnt aber das langsame Tempo der Reformen an – vor allem im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, der Verwaltung und der Presse- und Meinungsfreiheit. Die Stimmung in der Bevölkerung scheint dabei zweigeteilt: Laut dem letzten Eurobarometer vom Sommer 2022 fühlten sich 36 Prozent der Menschen in Montenegro der EU sehr oder ziemlich verbunden, 64 Prozent nicht sehr oder überhaupt nicht verbunden.
Serbien 🇷🇸
Gilt als Problemfall unter den Westbalkanstaaten: Erst nachdem das Land die von der EU geforderte Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher an das internationale Tribunal in Den Haag vollzog, war der Weg 2009 frei für eine offizielle Bewerbung. Seit 2012 ist Serbien Beitrittskandidat, die Verhandlungen laufen seit 2014. Schlüsselkriterium sind dabei die Beziehungen zum Kosovo, einer ehemaligen serbischen Provinz, die seit 2008 ein unabhängiger Staat ist, was Serbien jedoch bis heute nicht anerkennt. Beide Länder wollen in die EU, die bilateralen Spannungen verhindern aber beiderseitig das Vorankommen. Seit 2011 laufen (mit Unterbrechungen) von der EU moderierte Gespräche zur Normalisierung der Beziehungen. Die EU fordert von Serbien Reformen der Justiz und der Verwaltung, die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie den Minderheitenschutz, zudem gilt die prorussische Haltung der serbischen Regierung als Herausforderung in den Verhandlungen. Denn es gehört zu den Pflichten der Beitrittskandidaten, die EU-Außenpolitik zu übernehmen. Serbien hatte zwar zuletzt den Angriff auf die Ukraine verurteilt, beteiligt sich aber nicht an den EU-Sanktionen gegen Russland. Und auch in der Bevölkerung wächst die EU-Skepsis: Bei einer Umfrage im April 2022 gaben zum ersten Mal seit 20 Jahren mehr Menschen an, gegen einen EU-Beitritt zu sein, als dafür.
Kosovo 🇽🇰
Wie für alle Westbalkanstaaten hat auch für Kosovo seit 2003 die Beitrittsperspektive zur EU. Das Land hat bis jetzt keinen Beitrittsantrag gestellt, arbeitet aber seit vielen Jahren an der Annäherung an die EU. Seit 2008 unterstützt die Union die kosovarischen Behörden beim Aufbau eines Justiz-, Polizei- und Zollwesens, seit 2011 führen Kosovo und Serbien einen von der EU moderierten Dialog zur Normalisierung der Nachbarschaftsbeziehungen. Seit 2015 gibt es ein Assoziierungsabkommen zwischen Kosovo und der EU. Darin verpflichtet sich die EU, Kosovo bei seinen Reformbestrebungen und der Übertragung des EU-Rechts zu unterstützen. Zentrale Ziele sind die Unabhängigkeit von Medien und Justiz, die Bekämpfung von Korruption und Kriminalität wie auch eine Reformierung des Arbeitsmarktes. Die Kommission warnte 2021 in ihrem Fortschrittsbericht vor der politischen Instabilität und verwies auf die geringen Fortschritte auf dem Weg zu einer funktionierenden Marktwirtschaft. In der kosovarischen Bevölkerung wächst derweil der Frust darüber, dass das Land das einzige auf dem Westbalkan ist, dessen Bürger noch Visa für eine Einreise in die EU brauchen. Denn die Bedingungen für die Visaliberalisierung liegen laut Kommissions-Länderbericht bereits seit 2018 vor. Dennoch kündigte Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz an, noch in diesem Jahr den EU-Beitritt beantragen zu wollen.
Nordmazedonien 🇲🇰
Das Land hatte sich bereits seit 1997 auf die EU zubewegt und stieß dennoch seit seiner Bewerbung 2004 auf zahlreiche Widerstände: Zuerst blockierte Griechenland die Verhandlungen, weil der Name „Mazedonien“ auch eine griechische Provinz bezeichnet (2019 änderte das Land seinen Staatsnamen schließlich von Mazedonien zu Nordmazedonien). Dann lehnte Bulgarien die Bewerbung ab, weil es die bulgarische Minderheit in Nordmazedonien nicht ausreichend geschützt sah und die mazedonische Sprache nicht als eigenständig anerkennen wollte. Beide Punkte wurden nach zähen Verhandlungen ausgeräumt. Im Juli 2022 eröffnete der EU-Rat die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien. Die Kommission prüft derzeit gemeinsam mit Nordmazedonien, inwieweit der Bewerberstaat das EU-Recht bereits erfüllt. Auf Grundlage dieses Berichts werden anschließend die einzelnen Verhandlungskapitel geöffnet. Die Bürger*innen unterstützen den EU-Beitritt ihres Landes zu 63 Prozent, gehen jedoch nicht davon aus, dass dies in Kürze geschieht.
Albanien 🇦🇱
Albanien hat sich 2009 um eine Mitgliedschaft in der Union beworben und wurde 2014 offiziell Beitrittskandidat – ohne jedoch direkt mit Verhandlungen zu beginnen. Voraussetzung dafür waren sichtbare Fortschritte bei der Reform der Justiz und der Verwaltung, der Sicherung der Menschenrechte, der Bekämpfung von Korruption und der organisierten Kriminalität. Da aber die Bewerbungen von Nordmazedonien und Albanien von der EU als „Beitrittsbündel“ parallel behandelt wurden, bremste das bulgarische Veto gegen Nordmazedonien auch den albanischen Annäherungsprozess zwischenzeitlich aus. Als das bulgarische Veto fiel, wurden im Juli 2022 die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Das Ansehen der EU leidet zwar unter diesen Verzögerungen, ist aber bisher weiterhin noch sehr hoch: In einer jährlich durchgeführten nationalen Umfrage lag das öffentliche Vertrauen in die EU 2018 noch bei 80 Prozent, 2020 waren es 75 Prozent.
Republik Moldau 🇲🇩
Die Republik Moldau hat sich erst am 3. März 2022, kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, um eine Mitgliedschaft beworben und wurde im Juni 2022 als Beitrittskandidat anerkannt. Die EU-Kommission erklärte, dass das Land eine solide Grundlage für die Verhandlungen mitbringe, aber noch zentrale Wirtschaftsreformen durchführen müsse. Langfristig muss außerdem geklärt werden, wie künftig mit dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Landesteil Transnistrien verfahren wird. Die Annäherung an die EU hatte Präsidentin Maia Sandu vor der Wahl 2021 in Aussicht gestellt. Ihre Partei wurde mit 53 Prozent deutlich stärkste Kraft.
Ukraine 🇺🇦
Der EU beizutreten ist seit den 1990er-Jahren Wunsch der Ukraine und war ein grundlegendes Motiv für die demokratischen Reformen der vergangenen Jahrzehnte. Als der ehemalige Präsident Janukowitsch Ende 2013 beschloss, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine nicht zu unterzeichnen, kam es im sogenannten Euromaidan zu massiven Protesten – in der Folge annektierte Russland 2014 die Krim und unterstützte illegale bewaffnete Gruppen in der Ostukraine. Trotzdem blieb im Großteil des Landes die proeuropäische Einstellung der Bevölkerung bestehen, und so passte sich das Land schrittweise an die Kriterien der EU an. Die neue ukrainische Regierung unterzeichnete das Assoziierungsabkommen, das 2017 vollständig in Kraft trat. Darin sagt die Ukraine unter anderem wesentliche Angleichungen an das EU-Recht zu. Auch wenn die Umsetzung der Reformen (besonders in der Korruptionsbekämpfung) manchen Akteuren in der EU seither nicht entschieden genug vorangetrieben wurde, war der strategische Kurs des Landes klar: 2019 wurde das Ziel der „Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union“ in der Verfassung festgeschrieben. Nach dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 musste sich schließlich auch die EU klar positionieren: Knapp vier Monate nach der offiziellen Bewerbung des Landes erklärte der Europäische Rat die Ukraine im Juni 2022 offiziell zum Beitrittskandidaten. Wann die Ukraine letztendlich in die EU eintreten kann, ist auch abhängig davon, wie lange der Krieg noch andauern und in welchem Zustand das Land dann sein wird.
Bosnien und Herzegowina 🇧🇦
Das Land ist seit 2003 ein potenzieller Beitrittskandidat, der in verschiedenen Partnerschaftsprogrammen an die Union herangeführt werden soll. Bosnien und Herzegowina hat 2016 offiziell einen Beitrittsantrag gestellt. Die EU-Kommission definierte daraufhin 14 Reformbereiche (vor allem Justiz und Verwaltung), in denen es Veränderungen geben soll, bevor Verhandlungen aufgenommen werden. 2021 stellte die Kommission allerdings nur einen geringen Fortschritt bei der Umsetzung der Reformen fest. Die EU unterstützt Bosnien und Herzegowina bei den Reformen durch einen Sonderbeauftragten und durch Finanzmittel. Im Oktober 2022 hat die Kommission den Mitgliedstaaten vorgeschlagen, Bosnien und Herzegowina zum Beitrittskandidaten zu erklären.
Georgien 🇬🇪
Das südkaukasische Land, das keine Ländergrenzen zu aktuellen EU-Mitgliedern hat, ist bereits seit seiner Unabhängigkeit 1991 nach Europa ausgerichtet. Ursprünglich wollte das Land erst 2024 einen EU-Beitritt beantragen, bewarb sich aber im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine schon im März 2022. Im Gegensatz zu den beiden Mitbewerbern Ukraine und Republik Moldau wurde der Antrag von Georgien allerdings zurückgestellt: Das Land soll zunächst zwölf EU-Forderungen (darunter der Ausbau der Antikorruptionsstrategie und eine umfassende „De-Oligarchisierung“) umsetzen. Teil der zukünftigen Verhandlungen müsste außerdem eine Lösung des Konflikts um die Regionen Abchasien und Südossetien sein. Diese gehören zwar völkerrechtlich zu Georgien, es haben sich aber vor Jahrzehnten unter prorussischer Führung staatenähnliche Strukturen gebildet, die Unabhängigkeit für Abchasien und Südossetien beanspruchen. Die Zustimmungswerte für einen EU-Beitritt liegen in Georgien seit Jahren bei etwa 80 Prozent. Von den Menschen in Georgien wurde die „Zurückstufung“ deshalb enttäuscht aufgenommen: In den sozialen Medien wurde laut ARD-Berichten viel Frust darüber geäußert, dass Georgien wie Bosnien-Herzegowina und Kosovo auf die lange Bank verwiesen würden, während andere Länder an ihnen vorbei als Beitrittskandidaten in die Union einzögen.
Illustration: Renke Brandt