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Reden und reden lassen

Demokratie braucht Streit. Einige Debatten in der Geschichte des Deutschen Bundestages zeigten das besonders eindrücklich

Schröder VS Merkel

Politik heißt Streit: um Interessen und Ziele, um Kompromisse und Lösungen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages verhandeln stellvertretend für alle in der deutschen Gesellschaft – und auch vor aller Augen: Das Grundgesetz fordert, dass im Plenum öffentlich debattiert wird. Die Detailarbeit findet meist in den Ausschüssen statt, die sich in die Themen der anstehenden Diskussion einarbeiten und versuchen, Kompromisse zwischen den Fraktionen zu finden. Sie geben im Plenum eine Beschlussempfehlung, die dann diskutiert wird.

Die Debatten folgen Regeln, die die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, das Grundgesetz und das Abgeordnetengesetz festlegen. Die griffen so manches Mal, weil der Bundestagspräsident oder die Bundestagspräsidentin Abgeordnete „zur Ordnung rief“ oder sogar des Saales verwies, wenn sie die Würde des Hauses beschädigt hatten. Stenografen, die direkt vor dem Rednerpult sitzen, protokollieren die Debatten wortwörtlich. Auch die Abstimmungsformen und die Redezeiten sind festgelegt: Soll im Bundestag ein Gesetz beschlossen werden, braucht es eine Mehrheit der Stimmen. In der Regel werden sie per Handzeichen abgegeben, bei politisch besonders umstrittenen Fragen über Stimmkarten. Und je größer die Fraktion, umso mehr Redezeit erhält sie.

Kommt ein Parlamentarier trotz Ermahnungen nicht zum Ende, kann ihm der Bundestagspräsident das Wort wieder entziehen. Diese und weitere parlamentarische Spielregeln sorgen dafür, dass sich Rede und Gegenrede abwechseln und die Opposition die Möglichkeit hat, die Regierung zu kritisieren. Dabei geht es oft hoch her, manchmal auch innerhalb einer Fraktion.

„Danke, dass ihr das ertragen habt“

Wir schreiben das Jahr 2011, Griechenland ist fast pleite, und im Bundestag sollen neue Milliardenhilfen für das Land beschlossen werden. In der CDU eskaliert es. Wolfgang Bosbach will die Griechen aus dem Euro werfen, Kanzlerin Angela Merkel will sie drin halten. Im Plenum geht es hoch her. Einige CDU-Politiker wollen die von Merkel als „alternativlos“ beschworene Rettung nicht mitgehen. Einen von ihnen, Klaus-Peter Willsch, setzt die Fraktion nicht auf die Rednerliste. Woraufhin der sich kurzerhand selbst beim Bundestagspräsidenten anmeldet.

In seiner Rede kritisiert Willsch die Regierung Merkel, warnt vor einem Schaden für Europa, sollte Griechenland neue Kredite bekommen, und wendet sich am Ende an seine Parteikollegen: „Ich bedanke mich ausdrücklich, dass es mir möglich war, hier vorzutragen. Mit Blick auf meine eigene Fraktion sage ich: Danke, dass ihr das ertragen habt.“ Was den Kollegen leichtgefallen sein dürfte: Am Ende stimmt eine Mehrheit des Bundestags neuen Finanzhilfen zu.

 

Lang, länger, Bundestag

Aufrechte Demokraten lauschen auch bis 0.42 Uhr der Bundestagsdebatte zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Afghanistan-Einsatz. Dieser Enthusiasmus für demokratischen Streit hat seine Kosten: Bis in die Nacht dauernde Debatten sind enorm kräftezehrend. 2019 hatten Vertreter von SPD und Union bis in den frühen Morgen durchverhandelt, um sich auf ein Klimaschutzpaket zu einigen, wenige Wochen später erlitten gleich zwei Abgeordnete an einem Tag einen Schwächeanfall im Plenarsaal. Es folgte eine Debatte über zu lange Debatten.

Dabei gibt es einen Trick, um die zu verkürzen: In Marathonsitzungen werden die Reden zu Protokoll gegeben, also nicht gehalten, sondern nur im Sitzungsprotokoll vermerkt. Die Praxis ist verbreitet, manche Abgeordnete weichen aber davon ab und wollen auch nach Mitternacht noch sprechen. Der Rekord für die längste Plenardebatte wurde 1949 aufgestellt: 20 Stunden und 3 Minuten. Kurz vor halb 7 morgens vertagte das Parlament der jungen BRD seine Debatte über konsularische und wirtschaftliche Beziehungen auf den Folgetag.

Ein berühmtes „Nein“...

... stammt von Gerhard Schröder. 2002 wollen die USA nach dem 11. September ihren „Krieg gegen den Terror“ ausweiten und in den Irak einmarschieren. Die Antwort des damaligen Kanzlers (SPD) ist klar: „Nein zum Krieg.“

Seine Entscheidung, sich nicht am Irakkrieg zu beteiligen, entzweite den Bundestag: hier das Lager um Schröder und seinen Koalitionspartner, die Grünen, dort das um die Oppositionsführerin und spätere Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Der USA die Unterstützung zu versagen, hielt sie für ein außenpolitisches Fiasko. „Solange Schröder in Berlin regiert, wird Washington ihn als Gegner sehen. In Paris und London gilt er als überambitionierter Amateur.“

Schröder wiederum gab sich besonnen. Der Irak müsse friedlich entwaffnet werden, sagte er und verteilte verbale Kinnhaken Richtung Union: „Es gibt auch in unserem Land eine Koalition der Willigen für einen Krieg. (...) Denen (...) setzen wir mit der Mehrheit in unserem Volk den Mut zum Frieden entgegen.“

Viele hielten das für richtig. Zwei Tage nach der Bundestagsdebatte kam es weltweit zu Massendemonstrationen gegen den drohenden Irakkrieg, auch in Berlin. Wenn der Bundestag heute Fragen um Krieg und Frieden debattiert, gilt Schröders Nein zum Irakkrieg noch immer als Einschnitt.

Ein Rechtsstaat verteidigt sich

Gefängnisinsassen, die ihren Anwalt nicht sprechen dürfen? Klingt heftig, war aber Deutschland 1977. Die linksextreme Terrorgruppe RAF hat den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt, und der Bundestag diskutiert das sogenannte Kontaktsperregesetz. Das soll inhaftierte RAF-Mitglieder und Terrorverdächtige isolieren, damit sie nicht über ihre Verwandten oder Anwälte mit Schleyers Entführern kommunizieren können. Ein Krisenstab hat die Kontaktsperre eilig beschlossen. Aber wie weit darf der Rechtsstaat gehen, wenn er bedroht wird?

Weit, fand Klaus Hartmann (CSU): „Nur wenn unser Staat seinen Feinden entschlossen gegenübertritt, kann er die Freiräume der rechtstreuen Bürger auf Dauer bewahren. Selbsterhaltung und Notwehr sind kein Rückfall in den Polizeistaat.“ Andere Abgeordnete wie Manfred Coppik (SPD) hielten dagegen: „Mit ihren Schüssen schafft die RAF die Stimmung, die die Reaktionäre in unserem Land brauchen, um das kaputtzumachen, was in vielen Jahren mühsam an demokratischen Errungenschaften und rechtsstaatlichen Garantien erkämpft wurde.“ Eine Gruppe FDP-Abgeordneter schlug vor, den Kontakt der Inhaftierten zu Verteidigern nicht grundsätzlich zu unterbinden, sondern die bisherigen Anwälte durch Ersatzverteidiger zu ersetzen.

Das Land ist im Ausnahmezustand, Schleyer in Lebensgefahr: Nach heftigen Kontroversen stimmen fast alle Abgeordneten dem Gesetz zu. Es legalisierte nachträglich einen schweren Eingriff in die Freiheitsrechte – und wurde danach nie wieder angewandt. Schleyer konnte das Gesetz nicht schützen. Er wurde im Oktober 1977 von der RAF ermordet.

Zwei Sorten Tod

Selten wurden Abgeordnete im Bundestag so persönlich wie am 13. November 2014: Fast 50 Parlamentarier kamen zu Wort, viele erzählten von ihren Erfahrungen mit Krankheiten, Leiden und dem Sterben, denn das Plenum diskutierte über eine Neuregelung der Sterbehilfe. In Deutschland erlaubt waren damals die passive Sterbehilfe, bei der auf Patientenwunsch auf lebensverlängernde medizinische Maßnahmen verzichtet wird, und auch die sogenannte Beihilfe zum Suizid. Weshalb Organisationen und Vereine assistierte Suizide anboten, manche sogar gegen Bezahlung. Diese Gesetzeslücke wollte das Parlament schließen.

Dieser Text ist im fluter Nr. 91 „Streiten“ erschienen

Wegen des ethisch heiklen Themas wurde die Fraktionsdisziplin aufgehoben, was zu ungewöhnlichen Bündnissen führte: Atheisten von der Linkspartei pflichteten gläubigen Christen von der Union bei, der Tod dürfe keine Dienstleistung sein. CDU-Politiker votierten mit Grünen für ein libertäres Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende. Andere zweifelten grundsätzlich, ob solche Fragen nicht lieber Betroffene und Ärzte selbst beantworten sollten. Einig war sich der Saal später nur darin, wie respektvoll diese (damals neuartige) „Orientierungsdebatte“ abgelaufen war. Michael Frieser, ein CSU-Abgeordneter, sagte sogar: „Ich bin heute stolz, Mitglied des Bundestags zu sein.“ Ein Jahr später stimmte der Bundestag über die Gesetzentwürfe ab – und beschloss überraschend geschlossen, die geschäftsmäßige Sterbehilfe zu verbieten. Die Debatte hält an: 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Gesetz wieder gekippt.

Fotos: Uta Wagner/ IMAGO; Stephanie Pilick/dpa/picture alliance; Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance; DB Steiner/dpa/picture alliance

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