Thema – Ukraine

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Eine neue Liebe

Als sie fünf Jahre alt war, kam unsere Autorin nach Deutschland. In ihrem Kopf war die Ukraine ein rückständiges Land, sexistisch, korrupt und antisemitisch. Hier schreibt sie, warum sie ihrer Heimat nun näher als je zuvor ist

Marina Klimchuk

Nachtschwarze Dunkelheit liegt über Tschernihiw. Ohne Straßenlicht blitzt nur das Weiß der Schneekruste an den Straßenrändern auf. Als unser Minibus in einer Hauseinfahrt am Rand der Stadt parkt, zeichnet sich in der Finsternis die Kontur eines jungen Mannes ab. Die Autoscheinwerfer werfen Licht auf ihn, ich sehe, wie er uns zuwinkt. In dem fremden Gesicht erkenne ich die feinen Züge seiner Mutter wieder. Die blasse Haut, die aschblonden langen Haare – Nazar sieht aus wie meine Freundin Lena.

Wir steigen aus dem Bus und laufen die Treppen zur Wohnung hoch. Im Keller dieses Hauses harrten Lena und ihre drei Jungs im vergangenen März wochenlang fast ohne Essen und Wasser aus. Denn bis April stand Tschernihiw, nördlich gelegen von Kyjiw, unter russischem Beschuss.

Wer sagt, dass man ein Land lieben muss, nur weil man dort geboren ist?

Seit dem 24. Februar 2022 bin ich dreimal in die Ukraine gereist. Das ist öfter als in den letzten 25 Jahren zusammengenommen. Bis dahin hatte ich nur einmal, 2012, das Bedürfnis, die Ukraine kennenzulernen. Bei meinem Besuch damals war ich schockiert von dem Ausmaß an Sexismus und Korruption. An einem Tag im Monat, erzählte mir eine Freundin, hätte sie einen Joker: Ihr Mann spüle das Geschirr. Die restliche Zeit übernehme sie die gesamte Hausarbeit. Sie lachte über den Deal. Menschen klagten, dass man den Arzt bestechen müsse, um eine korrekte Diagnose zu erhalten. „Danke, dass du uns nach Deutschland gebracht hast“, sagte ich nach der Rückkehr zu meiner Mutter. Wer sagt, dass man ein Land lieben muss, nur weil man dort geboren ist?

Ich war fünf, als wir Mitte der 1990er-Jahre als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der westukrainischen Stadt Riwne nach Augsburg in Bayern kamen, wo wir zusammen ein Jahr lang in einem Zimmer lebten. Wir, das waren meine Eltern, meine Schwester Polina, meine Oma und ich. Geflohen waren wir vor der Armut, die Anfang der 1990er-Jahre über die Ukraine hereinbrach. Andere Familien nutzten das Chaos nach dem Ende der Sowjetunion, um „Business“ zu machen. Wir blieben arm. Wenn die Nachbarn Geburtstag hatten, verschenkten wir in Zeitungspapier eingewickelte weiße Socken.

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Kinderfoto (privat)
Früher: Marina an der Hand ihrer älteren Schwester in Riwne (privat)

Als wir in Deutschland lebten, interessierte mich mein Heimatland nicht besonders, auch wenn mir meine sowjetisch geprägten Eltern Anekdoten über Lenins Kindheit erzählten und wir zu Hause Borschtsch und Wareniki aßen. Die Ukraine bestand für mich aus Geschichten von Armut, vom Versuch des Sowjetregimes, das Reaktorunglück in Tschernobyl zu vertuschen, und von Korruption. Dazu kamen die Erzählungen meiner Mutter vom Antisemitismus, der damals allgegenwärtig war. Als wir noch in Riwne wohnten, hatten Lokalzeitungen Judenwitze gedruckt. Die Jungen in der Schule beschimpften meine Schwester, weil sie Jüdin ist.

Wenn ich heute meinen nichtjüdischen geflüchteten Freundinnen in Deutschland davon erzähle, wollen das einige nicht glauben. In ihrem Umfeld würden Juden respektiert, sagen sie, niemand hätte etwas gegen sie. Ich komme mir dann vor, als ob sich meine Familie das alles eingebildet hätte. Bis mir wieder einfällt, dass postsowjetische jüdische Autorinnen und Autoren wie Lena Gorelik und Dmitrij Kapitelman von ähnlichen Erfahrungen berichten. 

Seit Kriegsbeginn stoßen die Bilder in meinem Kopf auf die Realität

Aber klar: Die Ukraine hat sich in den letzten drei Jahrzehnten, vor allem seit der Majdan-Revolution 2013/14, stark verändert. Doch ich habe von dieser Veränderung kaum etwas mitbekommen. Stattdessen wirkte die Palette an Bildern, mit denen ich aufgewachsen bin, lange Zeit nach. Aber seit Kriegsbeginn stoßen die Bilder in meinem Kopf auf die Realität.

 

„Guten Tag, Marina! Ich heiße Lena. Ich komme mit zwei Kindern an, der Kleine sechs Jahre alt und mit Behinderung.“ Diese WhatsApp-Nachricht bekam ich am 27. März 2022. Eine alleinerziehende Frau auf der Flucht suchte eine Unterkunft. Es war nicht die einzige Anfrage dieser Art, damals hatte sich meine Telefonnummer unter Flüchtenden verbreitet.

Ich vermittelte Lenas Familie an Peter in Reutlingen, der sich bereit erklärt hatte, sie in seinem Haus aufzunehmen. Als ich sie zum ersten Mal dort besuchte, erzählte mir Lena von ihrem Ältesten, der in der Ukraine geblieben war: Nazar. Mit seinen 20 Jahren war er im wehrpflichtigen Alter und durfte das Land nicht verlassen.

In diesen Anfangsmonaten des Krieges lernte ich Dutzende Geflüchtete kennen. Viele von ihnen intelligente und weise Frauen, einige sind heute meine Freundinnen. Ich schämte mich für meine oberflächlichen Pauschalurteile, mit denen ich 2012 die Ukraine abgewertet hatte.

Ich bewundere die ukrainischen Frauen für ihre Stärke. Aber manchmal sind sie in ihren Einstellungen zu „typisch Frau und typisch Mann“ unerträglich konservativ

Da ist Valeria aus Winnyzja mit ihrem kleinen Sohn Timur, die jetzt in einem syrischen Salon als Friseurin arbeitet. Ihr Vater hat Krebs im vierten Stadium. Bis es zu dieser Diagnose kam, dauerte es Wochen. Ständig war Fliegeralarm, oder der Strom fiel aus, sodass man in der Klinik kein MRT machen konnte.

Da ist Aljona, Psychologin aus dem Donbas. Ihr Partner kämpft als Scharfschütze an der Front. Aljonas Tochter und ihre Enkelin leben in den Separatistengebieten, auf der anderen Seite der Frontlinie. Sie weiß nicht, wann sie sich wiedersehen werden.

Und da ist Lena, die ihren Nazar jeden Tag anruft und vor Angst vergeht, man könnte ihn zur Armee einziehen.

Im letzten Jahr haben diese Frauen Riesenstärke gezeigt. Ich bewundere sie. Aber manchmal sind sie in ihren Einstellungen zu „typisch Frau und typisch Mann“ unerträglich konservativ. Solches Gerede und Schlimmeres kenne ich auch aus meiner eigenen Familie. Und trotzdem: Nachdem ich sie kennengelernt hatte, wollte ich unbedingt in die Ukraine reisen. Ich musste drei Jahrzehnte aufholen. Als ich im vergangenen August für eine Recherche endlich hinfuhr, fühlte sich das wie eine Befreiung an.

Stundenlang kreiste ich in der Sommerhitze um den hässlichen lachsfarbenen Betonklotz in Riwne, in dem ich aufgewachsen war – dabei gab es dort nichts außer meinen verstaubten Kindheitserinnerungen. Ich fuhr mit dem Aufzug hoch und wieder runter und wieder hoch in den achten Stock, traute mich nicht, bei unserer alten Wohnung zu klingeln, aus Angst, angefeindet zu werden. Ich spreche Russisch und nicht Ukrainisch. Riwne ist eine ukrainischsprachige Stadt, viele Menschen dort wollen seit dem Krieg kein Russisch mehr sprechen.

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Marina (rechts) mit Aljona und Ljuda, die im März 2022 nach Deutschland flohen (Foto: privat)
Heute: Marina (rechts) mit Aljona und Ljuda, die im März 2022 nach Deutschland flohen (Foto: privat)

Bei meiner nächsten Reise besuchte ich auch Lenas Sohn Nazar, der nun allein in Lenas großer, gemütlicher Wohnung mit Fußbodenheizung, vielen Zimmern und vielen Familienfotos an den Wänden wohnt. Seine Tage verbrachte er mit Videospielen und Langeweile. An die Front wollte er auf keinen Fall.

„Wirst du nicht schief angeschaut, weil du nicht kämpfen willst?“, fragte ich ihn.

„Kommt darauf an. Es gibt die Patrioten, die das schlimm finden. Und die Frauen werfen ihren Männern im Streit jetzt gerne vor: Warum gehst du nicht kämpfen? Du bist gar kein echter Mann! Aber das wäre ja so, als ob man einer Frau sagen würde: Warum putzt du nicht den ganzen Tag, welche Funktion hast du sonst?“

Da waren sie wieder, diese Rollenzuschreibungen. Ich freute mich, dass Nazar sie anscheinend ähnlich dämlich fand wie ich.

Habe ich die Ukraine in den vergangenen Monaten vielleicht romantisiert, frage ich mich?

Später gingen wir in ein hippes Restaurant im Zentrum Tschernihiws. Dämmerlicht, graue Plüschsessel, statt Speisekarte nur ein Barcode zum Scannen. Hier trafen wir Lenas Freund D. und seine Mitarbeiterin. D. ist Politiker auf Landesebene, mit Kriegsbeginn gründete er eine eigene Hilfsorganisation. Ich fragte ihn, ob die Korruption besser geworden sei. Er lachte nur. „Du lebst wie Alice im Wunderland! Der Krieg hat es schlimmer gemacht.“

D. redete sich in Rage. Wenn man im Dorf einen Krankenwagen rufe, werde niemand kommen – es sei denn, man würde die Richtigen bezahlen, erzählte er. Und wenn man nicht die richtigen Verbindungen im Militär habe, werde man als Soldat mit ungenügender Ausrüstung nach Bachmut in den Donbas geschickt – als Kanonenfutter.

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D. ist Mitglied der „Radikalen Partei Oleh Ljaschkos“, einer populistischen Partei, die Oligarchen bekämpfen will. Einige ordnen die Partei als links, andere als rechtsextrem ein, weil sie militante Forderungen stellt. Auf einem Portal fand ich später einen Artikel über ihn, in dem er als „radikaler arbeitsloser Millionär“ bezeichnet wurde. Der Text war einige Jahre alt und warf ihm Beziehungen zu Oligarchen, Steuerhinterziehung und einen dekadenten Lebensstil vor. Mehrfach hatte D. beim Abendessen „sein Business“ erwähnt. Immer wieder machte er an diesem Abend sexistische Bemerkungen. „Frauen werden nie verstehen, dass man die Liebe von uns Männern nicht mit Geld kaufen kann!“, sagte er. „Ein Scherz“, beschwichtigte seine Kollegin. Ich spürte, dass sie Mitleid mit mir hatte, weil ich mit über 30 kinderlos bin. Frauen ohne Kinderwunsch sind in der Ukraine sozial nicht akzeptiert.

Habe ich die Ukraine in den vergangenen Monaten vielleicht romantisiert, frage ich mich? Wollte ich, dass sie moderner ist, als sie ist? Romantisiert die westliche Welt sie gerade?

Ja, mit Geld hast du eine gute Chance auf eine Position in der Politik. Aber wenn jemandem Korruption nachgewiesen wird, kommt es inzwischen immer häufiger zu Verurteilungen. Erst im Januar mussten mehrere Regierungsbeamte wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten. Im sogenannten Korruptionswahrnehmungsindex von 2022 steht die Ukraine zwar nur auf Platz 116, aber vor zehn Jahren war es noch Platz 144.

Sprüche über Frauen und Schwule, die auch in Deutschland bis vor einigen Jahren akzeptiert waren, sind normal – aber bei meinen Besuchen traf ich auch Menschen mit ganz anderen Einstellungen. Sie zeigten mir ein anderes Land. In der Ukraine gibt es wie auf der ganzen Welt Sexismus, Antisemitismus und Korruption. Sie besteht aber eben nicht nur daraus. Heute leben viele Tausende jüdische Menschen in der Ukraine, der Präsident ist ein säkularer Jude. Stereotype über Juden sind verbreitet, aber keine einzige jüdische Person, mit der ich gesprochen habe, berichtete von antisemitischen Erfahrungen.

Einige Sachen in der Ukraine gefallen mir nicht. Und doch fühle ich mich dort so wohl, wie man sich nur in seiner Muttersprache wohlfühlt. Ich finde die Witze lustig, esse jeden Tag Wareniki, verspüre den Menschen gegenüber Nähe. Ihre Geschichten, ihre Familien, beides könnten meine sein. Immer wieder spiele ich in meinem Kopf dasselbe Spiel durch: Wer wäre aus mir geworden, wenn wir damals dageblieben wären?

Titelbild: David Payr

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