Lil Nas X wird auf einer Trage ins Krankenhaus eingeliefert. Er weint vor Schmerzen, atmet schwer und wird von zwei Männern in einen Kreißsaal geschoben. „Er bekommt sein Baby“, schreit einer der Männer, während der Musiker seinen kugelrunden Bauch festhält. Die Männer beruhigen ihn und bereiten alles für die Geburt vor. Nach wenigen Sekunden presst Lil Nas X sein Baby heraus: eine in Plastikfolie eingeschweißte Vinylversion seines Debütalbums „Montero“.
Montero Lamar Hill, wie Lil Nas X mit bürgerlichem Namen heißt, weiß genau, wie er die Aufmerksamkeit seiner Fans und des Internets erregt. Schon Wochen bevor das kurze Geburtsvideo auf seinem Youtube-Kanal erschien, postete er Fotos mit Babybauch und warb damit für das Albumrelease. Anfang 2019 wurde der damals 19-Jährige schlagartig dafür bekannt, dass er in „Old Town Road“ einem Rap-Song Countryelemente beimischte. Seit seinem öffentlichen Coming-out ein paar Monate später ist seine Queerness das schillernde Markenzeichen seiner Musik.
Auf „Montero“ singt Lil Nas X über Liebe, Suizidgedanken und seinen Weg zum Ruhm
Es gab bisher wohl wenige Musiker, die ihre Homosexualität so offen zelebriert haben wie Lil Nas X. Allein in den vergangenen Wochen knutschte er mit einem seiner Tänzer bei den BET Awards und räkelte sich bei den MTV Music Video Awards zwischen halb nackten Männern auf der Bühne. Damit sorgte er für Shitstorms vonseiten konservativer US-Amerikaner:innen und ließ wohl Millionen queerer Herzen höher schlagen.
Lil Nas X ist nicht der erste schwule Rapper, der die homofeindliche Hip-Hop-Szene aufmischt. Neben ihm stehen auch Musiker wie Frank Ocean, Tyler the Creator, Zebra Katz oder Mykki Blanco offen zu ihrer sexuellen Orientierung. Der aus Georgia stammende Lil Nas X provoziert christliche Fundamentalist:innen und konservative US-Amerikaner:innen aber wie kein anderer: Im Musikvideo zu seiner ersten Singleauskopplung „Montero (Call me by your name)“ rutscht er als fallender Engel an einer Poledance-Stange in die Hölle, verführt Satan auf dessen Thron, nur um ihm anschließend das Genick zu brechen. Der Song ist eine Hymne an die Selbstakzeptanz queerer Menschen.
Das Album „Montero“ umfasst nun insgesamt 15 Songs und Kollaborationen mit Popgrößen wie Miley Cyrus, Megan Thee Stallion, Doja Cat und sogar Sir Elton John. Lil Nas X nimmt seine Fans darauf mit auf eine Reise zu sich selbst, singt über Liebe, Komplexe, Suizidgedanken und seinen Weg zum Ruhm. Dabei überrascht „Montero“ mit Gitarrensounds und einem Mix verschiedener Genres. In der düsteren Rockballade „Life after Salem“ singt Lil Nas X zu verzerrter Gitarre über eine zerbrochene Liebe, und Lieder wie „Void“ und „Lost in the Citadel“ klingen mehr nach 2005er-Indie-Rock als nach Hip-Hop. Dazwischen gibt es mit „Dead Right Now“ und „Scoop“ tanzbare Popsongs. Auch die Uptempo-Nummer „That’s what I want“ sorgt für gute Laune und ist der wohl radiotauglichste Titel des Albums.
Ein Thema, auf das Lil Nas X im Video zu „That’s what I want“ und in anderen Songs des Albums anspielt, ist die Tatsache, dass er beim Sex gerne bottom ist. Dass ein schwuler Musiker seine sexuelle Vorliebe so offen thematisiert, kommt einer kleinen Revolution gleich. Denn selbst in der queeren Community werden häufig frauenfeindliche Strukturen reproduziert, und mit den unterschiedlichen Rollen, die Männer im Bett einnehmen, werden verschiedene Eigenschaften assoziiert. Tops gelten als aktiver und maskuliner, Bottoms als passiver und femininer. Lil Nas X kehrt dieses Klischee um, indem er sich als „Power Bottom“ inszeniert, der die Kontrolle übernimmt, statt diese abzugeben. Damit provoziert er nicht nur in der heteronormativ dominierten Musikbranche, sondern bricht auch mit Vorurteilen innerhalb der queeren Community.
Die Shitstorms, die Lil Nas X durch solche Tabubrüche heraufbeschwört, scheinen dank seiner lässigen Reaktionen einfach an ihm abzuprallen. Er ist schließlich im Internet groß geworden und weiß es für seine Zwecke zu nutzen. Damit erscheint Lil Nas X wie das ideale Vorbild für eine neue Generation queerer Menschen. Und wer weiß, womöglich hat der Rapper Kid Cudi sogar recht mit der Prophezeiung, die er kürzlich in einem Interview gemacht hat: Lil Nas X könnte der Musiker sein, der die „homofeindliche Wolke“, die über dem Hip-Hop schwebt, endgültig verscheucht.
Titelbild: NINA WESTERVELT/NYT/Redux/laif