Es beginnt mit einer Blödelei aus Langeweile: Die Wiener Abiturientin Yesmin und ihre besten Freundinnen Bella und Nati probieren die Hijabs von Yesmins Mutter an. Sie twerken, räkeln sich, posieren für TikTok und performen zum Song „Losing My Religion“ von REM. Das Youtube-Video, das sie aus den kurzen Clips zusammenschneiden, wird über Nacht zum Hit – besonders in der muslimischen Community. Auch Yesmins Vater, der sich gern liberal und jung geblieben gibt, ist ein Fan und besorgt den drei Frauen kleinere Auftritte bei arabischen und persischen Festen. Sogar in einer Talkshow dürfen sie sprechen. Während sich Nati und Bella immer mehr für ihre neue Rolle begeistern, hadert Yesmin, die als Einzige der drei Kurdin ist und im Alltag Kopftuch trägt, mit dem Projekt. Anders als für ihre Freundinnen ist für die Tochter irakisch-kurdischer Einwanderer die Auseinandersetzung mit der muslimischen Religion nicht nur ein provokanter Spaß, sondern Teil ihrer Identität.
Wirklich nah ist sich nur, wer auch in den Stories der anderen zu sehen ist
Schon in ihrem ersten Dokumentarfilm interessierte sich die österreichische Filmemacherin Kurdwin Ayub für Identitätsfragen. In „Paradies! Paradies!“ von 2016 begleitete sie ihren Vater in seinen Heimatort im Nordirak, wo er sich zu Hause und sie sich fremd fühlte. In „Sonne“, der auf der diesjährigen Berlinale den GWFF-Preis für den besten Erstlingsfilm erhielt, übernehmen Ayubs Eltern nun die Rollen von Yesmins Vater und Mutter. Auch sonst mutet ihr Spielfilmdebüt beinahe dokumentarisch an: Die beengte, zweckmäßige Wohnung der Familie, die explizite Sprache der Jugendlichen, die oft verwackelte Handkamera und die fehlende künstliche Beleuchtung vermitteln das Gefühl von Authentizität.
Auch die immer wieder zwischengeschnittenen Social-Media-Clips im Hochformat tragen zur Unmittelbarkeit der Geschichte bei. Ob beim Abhängen im Parkhaus, bei nächtlichen Partytouren oder beim Posieren mit Elfenohren-Filtern – die Videos sind Ausdruck des medialen Alltags und gleichzeitig selbst eine künstlerische Ausdrucksform der jungen Frauen. Geschickt nutzt Ayub die schnellen Abfolgen von Videosnippets außerdem dazu, die zunehmende Distanz zwischen den Freundinnen zu veranschaulichen: Wirklich nah ist nur, wer auch in den Storys der anderen zu sehen ist.
Fast beiläufig zeigt „Sonne“ ein interkulturelles Wien, in dem ethnische Zugehörigkeiten selbstverständlich gelebt, geteilt und zu neuen kulturellen Trends verbunden werden: Festliche Szenen einer kurdischen Hochzeitsfeier folgen nahtlos auf Gespräche über Vaginas und darauf wiederum Alkoholexzesse, die von den Eltern schmunzelnd hingenommen werden. Nur Yesmins Mutter begegnet den liberalen Einstellungen mit Skepsis. Ihr zurückgezogenes Leben in der Wohnung wird dargestellt als Folge von traumatischen Kriegserlebnissen, die sie in einem intimen Moment mit ihrer Tochter teilt.
„Jetzt seid ihr die Ausländermädchen und nicht ich“
Yesmin steht irgendwie zwischen alldem. Nach und nach fängt sie an, ihre Lebensweise zu hinterfragen. Ihre beiden Freundinnen hingegen fühlen sich immer stärker angezogen von der kurdischen Kultur, die für sie fremd ist. Nati beginnt, einen jungen Mann mit kurdischen Wurzeln und konservativen religiösen Ansichten zu daten. Bella scheint ihre zunehmende Entwurzelung durch wilde Partys zu kompensieren, gleichzeitig träumt sie von einer Reise nach „Kurdistan“. Was Emanzipation bedeutet, was Zugehörigkeit, darauf finden die Freundinnen immer unterschiedlichere Antworten. „Ich dachte, wir tauschen die Rollen“, sagt Yesmin einmal provokant zu ihren Freundinnen, als sie zu einem Auftritt ungewohnt freizügig auftaucht: „Jetzt seid ihr die Ausländermädchen und nicht ich.“
Leicht erzählt und dabei doch mit großer Ernsthaftigkeit, gelingt Kurdwin Ayub mit ihrem Film eine feinfühlige Geschichte über migrantische Selbstermächtigung und das Ausloten der eigenen Identität. Dabei ist „Sonne“ auch eine liebevolle Annäherung an die Verworrenheit jugendlicher Freundschaften, die weit über die kurdisch-österreichische Gesellschaft hinausweist.
„Sonne“ hatte auf der Berlinale Premiere und läuft ab dem 1. Dezember 2022 in den deutschen Kinos.
Titelbild: Ulrich Seidl Filmproduction